Bürgerengagement und Zivilcourage -
die "Bürgerinitiative Altstadtentwicklung Erfurt“ oder wie das Andreasviertel gerettet wurde
Es war im November 1986: An einem Abend trafen sich in den Räumen der “Offenen Arbeit” der Evangelischen Kirche ein Handvoll Leute. Der (inzwischen verstorbene) Pfarrer Pappe stellte dar, was er von den Plänen für die “Neugestaltung” der Erfurter Altstadt wusste und was das in seinem Verständnis bedeutete. Aber die Zuhörer waren zum größeren Teil bereits sensibilisiert: Wenn es so weitergeht mit den Abrissen, wenn die Pergamentergasse durch eine vierspurige Stadtautobahn ersetzt wird, dann geht wieder ein ganz wesentliches Stück der Eigenart dieser geschichtsträchtigen Stadt verloren. Was tun? - diese Frage stand am Schluss im Raum. Die meisten der Besucher beschlossen, sich wieder zu treffen. Das war die Geburtsstunde der "Arbeitsgruppe Stadt- und Wohnumwelt" bei Stadtmission und Gemeindedienst der evangelischen Kirche, später bekannt geworden als “Bürgerinitiative Altstadtentwicklung Erfurt e.V”. Kurz danach kamen noch einige Mitstreiter dazu, die im Kulturbund versucht hatten, eine ähnliche Initiative zu gründen. Sie hatten aber sehr bald erkannt, dass ihr Handlungsspielraum unter der staatlichen Kontrolle nur sehr gering war.
Als erstes wurde verabredet, private Eingaben zu der Problematik zu schreiben. Dies war die einzige Möglichkeit zu DDR-Zeiten, auf die Politik Einfluss zu nehmen, denn die gewählten Politiker verstanden sich eher als Interessenvertreter des Staates und “erklärten” nur den Bürgern, warum ihre Politik richtig ist. Bei der Sammlung und Auswertung der in den Eingabengesprächen erlangten Informationen wurde erst das gesamte Ausmaß deutlich. Und wieder die Frage, was tun? Klar war, dass ein Großteil der Erfurter Bevölkerung nur bruchstückhaft oder gar nichts von den “Rekonstruktionsplänen” wusste und vor allem dass die Auswirkungen nicht deutlich waren. Die Idee einer Ausstellung wurde geboren, und bald war klar, dass die nur im kirchlichen Rahmen sein konnte. Als Jugendmitarbeiter im kirchlichen Dienst fand ich im Stadtmissionspfarrer Hartmann einen bereitwilligen Partner, die Mitarbeiter in der Denkmalpflege Thomas Staemmler und Ludwig Volkmann bereiteten die Informationen auf, Dieter Stark und Knopf Burghardt von der Offenen Arbeit fotografierten, und auch der damalige Praktikant im VEB Denkmalpflege Holger Reinhardt machte Foto-Vergrößerungen. Die Bibliothekarin Katrin Nitsch durchforschte die Archive, und Marion Döge ließ zusammen mit der Malerin Katrin Sengewald die Pergamentergasse in der Phantasie wieder erstehen; die lange Papierrolle dafür hatte ein Soldat von der Agitationsabteilung der Steigerkaserne “organisiert”.
Vom 8. Mai bis 6. Juli 87 lockte die Ausstellung "Stadtgerechter Verkehr - verkehrsgerechte Stadt" über den geplanten Abriss im Andreasviertel und die Stadtring-Schließung durch die Altstadt 12.000 Besucher in die Michaeliskirche. In der Zeit wurde zwei öffentliche Gespräche, wie nicht anders zu erwarten ohne Beteiligung der Stadtverantwortlichen, durchgeführt. Als einzige Zeitung berichtet das evangelische Wochenblatt "Glaube und Heimat". Aber die Brisanz entstand vor allem durch die Meinungsäußerungen in den ausgelegten Büchern. Auch wenn das erste nach einer Woche gestohlen wurde und nach 1989 bei der Stasi wieder gefunden wurde: Zum größten Teil stellten sich die Besucher, z.T. sogar mit Namen hinter unser Anliegen.
Alle Meinungsäußerungen wurden ausgewertet und in Form von zwei umfangreichen Eingaben zur Denkmalpflege und zur Verkehrsplanung an den Rat der Stadt übergeben und später an die zuständigen Ministerien und den Vorsitzenden des Staatsrates Honecker geschickt. Dies löste soviel Unruhe aus, dass die Pläne erstmal auf Eis gelegt wurden.
Im Rahmen des Kirchentages 1988 fand eine zweite Ausstellung “Stadt am Kreuzweg” statt. Die Pläne wurden umgearbeitet, aber letztlich setzten dem die fehlenden Möglichkeiten der DDR-Wirtschaft, insbesondere die fast vollständige Orientierung auf den “industriellen” Platten-Neubau und damit verbunden das fehlende Bauhandwerk enge Grenzen.
Erst die politischen Veränderungen 1989 brachten die grundlegende Änderung. Und die Mitglieder unserer Gruppe waren gut vorbereitet, denn wir hatten Alternativen zur Verkehrsplanung erarbeitet, die kleinen Häuser sollten privatisiert und so erhalten werden...
Im Rathausgespräch am 15. 10. 89 wird Klartext geredet, und am 15. 11. 89 konstituiert sich der Runde Tisch "Arbeitskreis Innenstadt", an dem Politiker, Fachleute und wir als „betroffene Bürger“ gemeinsam arbeiten. Schon in der ersten Sitzung wird ein Konsens über neue Prämissen in der Altstadt - Bau- und Verkehrsplanung erreicht. Das Büro des Stadtarchitekten zieht sehr bald mit, hatten doch die Architekten die Planungen oft genauso kritisch beurteilt, aber keine Alternativen gesehen. Am 22. und 23. 11. werden bei einer Begehung im Andreasviertel Abrisstop und Sicherung erhaltenswerter Gebäude vereinbart, und schon in der nächsten Woche beginnen Sicherungsarbeiten an mehreren Gebäuden im Andreasviertel in Wochenendeinsätzen durch Mitglieder der Bürgerinitiative, die ebenfalls damit beauftragten Firmen realisieren das in sehr unterschiedlicher Intensität.
Schwerer tun sich die Verkehrsplaner, in einer gemeinsamen Sitzung im “Büro für Verkehrsplanung bei der Stadtdirektion Straßenwesen” wird mühsam ein Kompromiss vereinbart, deutlich wird das an den zwei unterschiedlichen Protokollen. Aber der in der ersten Legislaturperiode des neuen Stadtparlamentes erarbeitete “Verkehrsentwicklungsplan” bestätigt weitgehend die Ansichten der Bürgerinitiative, die Verkehrsplanung ist vom Gedanken der “(Auto-) verkehrsgerechten Stadt” zumindest ein Stück abgerückt.
Auch im "Neuen Forum" gründete sich im Oktober 1989 mit Christine Machate und weiteren eine "AG Denkmalpflege und Stadterhaltung", mit der intensiv zusammengearbeitet wird und die im später gegründeten Verein mit aufgeht. Später kommen noch die “Kellerforscher” mit Gerd Schöneburg und Volker Düsterdick, die "Krämerbrückeninitiative" mit Egon Zimpel, dem Ehepaar Leuschner und Hannelore Reichenbach dazu. Unsere Initiative hatte sich noch nach dem von der Volkskammer 1989 erlassenen Gesetz als „Bürgerinitiative Altstadtentwicklung“ eintragen lassen, 1990 konstituierte sie sich nach bundesdeutschem Recht als e.V.
Wohl am bekanntesten wird die von der "Interessengemeinschaft Alte Universität" initiierte und mit uns gemeinsam durchgeführte Menschenkette um die Altstadt am 10. 12. 89, über die das Fernsehen der DDR nun berichtet. Aber auch zahlreiche Zeitungsartikel, Fernseh- und Rundfunkbeiträge bis hin zu der "Aspekte"-Livesendung des ZDF aus dem "Roten Ochsen" Erfurt zur Denkmalpflege in der DDR am 26. 1. 90 machen das Andreasviertel bekannt. Am 11. 11. 91 wird ihr der "Deutschen Preis für Denkmalschutz 1991" verliehen.
Die unzählige und aufwendige Arbeit vor und während der Friedlichen Revolution wurde mit der Aufstellung von 5 Kandidaten auf Liste "Neues Forum / Grüne" zu den Kommunalwahlen 90 fortgeführt. Neun Jahre habe ich die Anliegen im Bauausschuss und Stadtrat vertreten, zeitweilig mit Holger Reinhard und Dieter Stark. Auch das Feld des Engagements erweitert sich, z.B. mit dem Einsatz für die Reste der mittelalterlichen Stadtburg an der Schlösserbrücke, die dem C&A-Kaufhaus zum Opfer fallen, und dem Bahnhofs-Mittelgebäude. Schon 1990 wird von Mitgliedern der Initiative 1990 eine Gruppe des „Allgemeinen Deutschen Fahrradclub“ (ADFC) und 1993 ein Car-Sharing-Gruppe gegründet.
Zehn Jahre nach der “Wende” und dreizehn Jahre nach Gründung der Bürgerinitiative fiel anlässlich einer vom Baudezernenten initiierten Ausstellung und einer Diskussionsveranstaltung die Bilanz nüchtern aus: Vieles ist durch Rendite-orientierten Investitionen vernichtet worden oder konnte durch den politisch festgelegten Grundsatz “Rückgabe vor Entschädigung” und den daraus folgenden Problemen nicht verwirklicht werden.
Dennoch wurde das grundsätzliche Umdenken in der Stadtentwicklung erreicht, und wenn inzwischen die Erfurter Altstadt eine der attraktivsten in Deutschland geworden ist, so verdankt sie das auch dem, was damals ganz klein begann.
Bald darauf löst sich die Bürgerinitiative auf, ihre Mitglieder sind längst vielfältig aktiv, als Denkmalpfleger, als Selbständige, als Ehrenamtliche. Holger Reinhardt wird später Landeskonservator, Thomas Staemmler Professor für Steinrestaurierung, Ludwig Volkmann und Christine Machate gründen Restaurierungsateliers, die Brüder Pappe eine bald bundesweit tätige Holz-Baufirma. Alle vorhandenen Unterlagen werden dem Stadtarchiv Erfurt übergeben.
Matthias Sengewald
► Zeittafel Bürgerinitiative Altstadtentwicklung Erfurt e.V.
► Dokumente aus der Arbeit der Bürgerinitiative Altstadtentwicklung Erfurt e.V.
► Erklärungen zu den beteiligten Personen
► MfS-Analysematerial Ausstellungsgespräch 21.05.1987
► Das Forschungsprojekt "Stadtwende"
Video Bericht
MDR-Zeitreise
Die Altstädte der DDR 1989 - Symbol für ein verfallendes System | ►MDR DOKU
Das Logo war das der Straßenführung des geplanten Innenstadtringes nach- empfundene Erfurter Rad (Stadtwappen)
Die Planung für das Andreasviertel 1987
(Umrandung blau: Sanierung vorhander Gebäude und die bisherige Bebauungsgrenze, rot: Neubau in Großplattenbauweise, violett: Neubau konventionell, gelb: geplante Straßenführung mit 4-spuriger Freihaltung für späteren Ausbau