„Ein Ort, den man nicht bedrückt verlässt.“

 

von Barbara und Matthias Sengewald

10 Jahre ist nun schon die Gedenk- und Bildungsstätte Andreasstraße Erfurt geöffnet. Sie hat inzwischen mehrere Preise erhalten. Was ist das Besondere daran?

Von außen macht schon der Kubus mit seiner verspiegelten Comic-Fassade und den Zeichnungen von Simon Schwartz als Kontrapunkt zur kaiserzeitlichen Haftanstalt deutlich, dass hier etwas Ungewöhnliches gelungen ist, nämlich die erzählerische Verbindung von zwei vermeintlich unvereinbaren Polen: Unterdrückung und Befreiung, Schmerz und Triumph“.1

 

Foto: Die alte Haftanstalt mit ihren vergitterten Fenstern spiegelt sich im Veranstaltungs-Kubus an der heutigen Gedenkstätte in Erfurt. Die Bilder im Comic-Stil sind eine Collage aus Fotos von 1989/90.

Wie kam es dazu?

Als Ende 2002 die bisherige U-Haft-Anstalt in Erfurt leer stand, tat sich eine Chance auf, in Erfurt endlich auch einen Erinnerungsort der Friedlichen Revolution zu schaffen. Die frühere Bezirksverwaltung war nämlich der Polizei als neuem stadtnahen Hauptsitz übergeben worden, nachdem die Stasi aufgelöst, die Stasi-Unterlagen-Behörde geschaffen, das Stasi-Unterlagen-Gesetz beschlossen war und das Bürgerkomitee seine Arbeit eingestellt hatte. Der mit viel Technik bestückte Stasi-Neubau ging an die Post und der Trakt in der U-Haft, den bisher die Stasi genutzt hatte, ging zurück zur Justiz im danebengelegenen Gerichtsgebäude. Nur die oberste Etage des Stasi-Flügels der U-Haft war, nachdem wir dort 1989 vorübergehend die Akten aus den aufgelösten Kreisdienststellen eingelagert hatten, nicht wieder renoviert und als U-Haft genutzt worden. Sie war, abgesehen von einigen Beschädigungen, im Stasi-Original erhalten geblieben. Alles war in guter Absicht geschehen, möglichst schnell zu geordneten demokratischen Verhältnissen zu kommen.

Andere, wie in Leipzig in der „Runden Ecke“ oder in Halle im „Roten Ochsen“ hatten gleich oder viel eher daran gedacht, die Aufarbeitung der Akten mit einer Gedenkstätte zu ergänzen.

Das schien nun in Erfurt auch möglich. Aber wie sollte die Aufarbeitung aussehen? Uns als „Gesellschaft für Zeitgeschichte e.V.“, einem Verein, 1999 aus früheren Mitgliedern des Bürgerkomitees gegründet, war klar, dass es nicht nur um Gedenken und Erinnern, sondern genauso um Lernen gehen muss. Und dass diesem Ort nicht nur Rückschau auf das Geschehene, sondern auch eine Stätte geben müsste, in der auch Zivilcourage und Engagement für Menschenrechte und Demokratie Thema sein sollten. Deshalb sollte auch neben der erhalten gebliebenen Haftetage die Friedliche Revolution benannt und dargestellt werden, wie sie ablief, was uns bewegt hatte, was dem voraus gegangen war.

Doch zunächst ging es darum, die Öffentlichkeit für das Vorhaben zu sensibilisieren. Mit einem Kunstprojekt, bei dem in der ehemaligen U-Haft von 6 Künstlerinnen und Künstlern vor Ort in den Zellen Kunstwerke gestalteten, wurde das Haus von Juni bis September 2005 erstmals geöffnet.

Reichlich 8.000 Besucher kamen. Viele waren emotional sehr berührt, denn für sie war es eine Begegnung mit der Seite der DDR, die vielen nicht bewusst war und inzwischen schon immer mehr verblasste. Aber er kamen zunehmend auch Menschen, die hier inhaftiert waren. Erst zaghaft, nachdem dann Verbindungen aufgebaut waren, mehr und mehr fingen sie an, von ihren Erlebnissen zu berichten. Das vergangene Leiden wurde konkret, bekam ein Gesicht.

Es war auch gelungen, die Stadt- und Landespolitik aufmerksam zu machen, der damalige Ministerpräsident Dieter Althaus erklärt nach einem Besuch der Ausstellung die Absicht der Landesregierung, den Ort als Gedenkstätte und zur politischen Bildung zu erhalten.

In der Auswertung kam es bei der Mitgliederversammlung der Gesellschaft für Zeitgeschichte zu einem grundsätzlichen einstimmigen Beschluss:

1. Die Gesellschaft für Zeitgeschichte e.V. betrachtet die Beförderung des Anliegens zur Errichtung einer Gedenkstätte als eine ihrer Aufgaben. Die Form der Beteiligung ist noch offen und muss konkretisiert werden.

2. Alle Möglichkeiten einer Beteiligung und Mitwirkung werden geprüft, vor allem soll juristischer und sachkundiger Rat eingeholt werden, um zu einer Entscheidung zu kommen.

3. Tendenz sollte eine Beteiligung ohne alleinige Trägerschaft der GfZ sein. Es wird eine Mitträgerschaft des Landes Thüringen angestrebt. Die GfZ wird unter diesen Voraussetzungen zu den Beteiligten gehören.“2

Noch während der Ausstellung hatten sich einige der ehemals Inhaftierten getroffen, im Herbst entstand daraus eine „Arbeitsgemeinschaft der Zeitzeugen“. Sie beteiligten sich als Zeitzeugen an Führungen, eine wurde in das Team der Ausstellungsbetreuung aufgenommen. Ab November fanden regelmäßige Treffen statt. Die damalige Thüringer Landesbeauftragte für die Stasiunterlagen mit ihren Mitarbeitenden organisierte diese und betreute die Beteiligten. Es gab Anfragen, ob sie nicht bei der GfZ Mitglied werden können, aber wir haben dann empfohlen, einen eigenen Verein zu gründen, weil die Fragen von Rehabilitierung und Entschädigungen nicht unser Schwerpunkt waren. Tatsächlich entstand im März 2007 daraus ein zweiter Verein „Freiheit e.V.“.

Das Ausstellungs-Projekt wurde 2006 und 2007 auch mit unserer Beteiligung weitergeführt. Anfang 2007 gelang es außerdem, von einem jungen Historiker auf Honorarbasis ein grundlegendes Konzept mit den Schwerpunkten „erinnern – gedenken – lernen“ für eine Bildungs- und Gedenkstätte erarbeiten zu lassen.

Die Landesbeauftragte und die Gruppe ehemals Inhaftierter waren daran von Anfang an beteiligt. Aber schon während der Erarbeitung kam es zunehmend zu unterschiedlichen Auffassungen. Der Konflikt eskalierte, eine Mitarbeiterin der Landesbeauftragten und Historikerin, legte mit einigen dieser Gruppe ein Alternativkonzept vor, das sich auf eine Haftgedenkstätte konzentrierte. Es gelang nicht, zu einem gemeinsamen Kompromiss zu kommen, die Arbeitsgruppe zerbrach mitten in der Arbeit. Die Gesellschaft für Zeitgeschichte stellte das Konzept allein fertig, das nun aber von Freiheit e.V. heftig kritisiert wurde.

Worin lagen die Unterschiede? Dazu sei aus dem Zwischenbericht an die geldgebende Stiftung Aufarbeitung zitiert:

So existieren nun zwei Konzepte, die sich – bei vielerlei Gemeinsamkeiten in der konkreten Umsetzung – inhaltlich in ihrer Grundaussage unterscheiden. Während das von der LStU favorisierte Konzept in der ehemaligen MfS-UHA Erfurt insbesondere einen Gedenkort für die Opfer der politischen Gewalt in der DDR im Blick hat, orientiert sich das von Dr. Wurschi erarbeitete Konzept auf eine pädagogische Ausrichtung der Gedenk- und Bildungsstätte, die in den Nutzern und Trägern der politischen Bildungsarbeit die wichtigsten Ansprechpartner sieht.

Wir halten den durch uns betonten Dreiklang von Gedenk-, Erinnerungs- und Lernort für grundsätzlich wichtig, um die ehemalige Stasi-U-Haft Andreasstraße Erfurt zu einer nachhaltig wirksamen Gedenkstätte zu etablieren. Gerade die kürzlich bekannt gewordenen Ergebnisse der Untersuchung der Freien Universität Berlin über die Verklärung der DDR unter jungen Menschen bestätigen uns in der Betonung eines breiter angelegten Bildungskonzeptes als grundlegender Bestandteil der Konzeption.“

Auch 2008 und 2009 gab es wieder eine Ausstellung in der U-Haft, aber diesmal allein unter Trägerschaft und Vorbereitung durch die Landesbeauftragte und den Verein Freiheit e.V.

Inzwischen waren auch die Zusagen des Landes konkreter geworden: Im April 2008 setzt die Landesregierung eine Expertenkommission unter Leitung des Historikers Prof. Peter Maser ein, sie legte am 30. September 2008 die Eckpunkte für eine Konzeption3 vor. Im Ergebnis eines Kabinettbeschlusses der Thüringer Landesregierung vom Januar 2009 sollte der Stiftung Ettersberg4 die Trägerschaft über die Gedenk- und Bildungsstätte Andreasstraße übertragen werden. Das stieß außer bei der ‚Gesellschaft für Zeitgeschichte‘ auf grundsätzliche Ablehnung. Für Freiheit e.V. und die Landesbeauftragte kam nur eine Trägerschaft durch den eigenen Verein infrage. In der Folge kam es immer wieder zu verbalen Angriffen auf die Stiftung Ettersberg, aber auch die beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler.

Im bitterkalten Winter-Januar 2010 eskalierte der Konflikt nochmals: Mitglieder von Freiheit e.V. „besetzten“ die leerstehende Haftanstalt, drei von ihnen begannen in den Zellen einen Hungerstreik, um die Trägerschaft und die Gestaltung in ihrem Sinne zu erreichen. Außen am Gebäude waren große selbstgemalte Transparente aufgehängt, die die Forderungen zeigten.5

Foto: Besetzung der Andreasstraße im Januar 2010

Diese spektakuläre Aktion ist durch Presse- und andere Berichte weithin bekannt geworden, was oft zu falchen Rückschlüssen über Akteure, Anliegen und Entstehung der Gedenk- und Bildungsstätte führt.
Denn bereits im Juli 2009 hatte die Landesregierung, um eine Einbindung des Opfer-Vereins zu ermöglichen, eine unselbständige Stiftung "Gedenken - Erinnern – Lernen. Thüringer Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur" gegründet, die die Trägerschaft der neuen Einrichtung wahrnehmen sollte6. Zu der Stiftung sollte ein Beirat gehören, dem Vertreter der inzwischen 3 Vereine angehören: Der „Gesellschaft für Zeitgeschichte“ e.V. (GfZ), des „Freiheit e.V.“ und der Vereinigung der Opfer des Stalinismus“ (VOS). Die drei Vereine kamen nun (wieder) zur Zusammenarbeit, einer der ersten Beschlüsse vom 18. März 2010 war eine „gemeinsame Erklärung“:
„In der Bildungs- und Gedenkstätte Andreasstraße Erfurt sollen Zeitzeugen unter Wahrung ihrer jeweils individuellen Erfahrungen in der konzeptionellen Erarbeitung, den Ausstellungen, der Bildungsarbeit und im Dialog mit wissenschaftlicher Arbeit beteiligt sein. Zeitzeugen sind Opfer und Akteure der Überwindung der SED-Diktatur ebenso wie die Menschen. die die Folgen der SED-Diktatur im Alltag ertragen mussten; Widerstand und Opposition und Haft müssen sich wiederspiegeln.“7

Ende März 2010 schlossen alle drei Vereine jeweils Vereinbarungen mit der unselbstständigen Stiftung zu Mitarbeit und Kooperation der Zeitzeugen ab8. Damit und mit der „Gemeinsamen Erklärung“ gelang es, den Konflikt um Inhalt und Trägerschaft vorerst beizulegen und die Basis für die heutige konstruktive Zusammenarbeit zu legen.

Mit einem Festakt am 17. Juni 2010 wurde der Baubeginn der Bildungs- und Gedenkstätte gefeiert. Am 1. Juli begannen die Sanierungsarbeiten am Gebäude und die Errichtung des Eingangsbereiches mit dem Veranstaltungssaal.

Zugleich begann die konkrete Erarbeitung der Ausstellungskonzeption. Nochmals kam es zu einem mehrmaligen Hin- und Her zwischen konstruktiver Zusammenarbeit und Verweigerung durch den Verein „Freiheit e.V.“, der in enger Abstimmung mit der damaligen Landesbeauftragten agierte.

Am 1. Juni 2010 begann eine Arbeitsgruppe mit der Erarbeitung eines Entwurfs für die Konzeption, mit der detaillierten Erarbeitung wurde die Mediengestalterin Stefanie Wahl beauftragt. Auch Freiheit e.V. und die GfZ waren in der Arbeitsgruppe direkt beteiligt, aber parallel dazu und ohne Absprache arbeiteten Freiheit e.V. und die Landesbeauftragte an einem alternativen „Historiker-Zeitzeugen-Konzepts“ weiter und stellten es am 21. Oktober 2010 öffentlich vor. Daraufhin wurde im Einvernehmen eine Projektgruppe gebildet, die im Grunde genommen beide Konzepte zusammenführen sollte. Sie tagte zweimal, viele Anregungen wurde aufgenommen, aber zum dritten Treffen sagte Freiheit e.V. wiederum ab.

Dennoch gelang es, Schritt für Schritt die Grundlagen zu legen, für die Konzeption, für die Ausgestaltung der Ausstellung, für die Berufung eines Leiters. Dieser konnte im November 2011 berufen werden, nun wurde auch die unselbständige Stiftung mit der „Stiftung Ettersberg“ zusammengelegt, der Beirat ging mit in die gemeinsame Stiftung über. In mehreren öffentlichen Gesprächskreisen wurde die Gestaltung der Dauerausstellung diskutiert, auch die Gestaltung des Kubus-Neubaus und der nachempfundenen früheren Freigangzellen, der „Tigerkäfige“.

Am 3. Dezember 2012 konnte das Haus, am 17. Juni 2013 der Hof mit den Freigangzellen und am 4. Dezember 2013 die Dauerausstellung eröffnet werden.

Woran entzündeten sich die Konflikte?

Im Kern war es die Forderung von Freiheit e.V. nach der alleinigen Trägerschaft , um damit entscheidenden Einfluss auf die Entstehung und Gestaltung, die laufende Arbeit und die handelnden Personen zu haben. Folgerichtig war damit verbunden die Konzentration auf eine „Haftgedenkstätte“9.

Die Darstellung des Alltags und des Lebens in der Diktatur, von der alltäglichen Auseinandersetzung zwischen Anpassung und Aufbegehren, von Opposition und Widerstand sollte in den vom Freiheit e.V. und der Landesbeauftragten erarbeiteten „Historiker-Zeitzeugen-Konzept“ im Wesentlichen und größtenteils anhand ausgewählter Biografien von ehemals in der Andreasstraße Inhaftierten erfolgen.10

Durch diese Beschränkung wäre ein deutlich verzerrtes Bild entstanden. Man muss sich klarmachen, dass der Großteil der in der Stasi-U-Haft Inhaftierten dort wegen Republikflucht eingesperrt war11. Das Wirken von Nicht-Inhaftierten Oppositionellen wäre nicht vorgekommen. Die gesamte Darstellung wäre aus dem Blickwinkel von Haft und Unterdrückung erfolgt. Die Überwindung der Diktatur in der Friedlichen Revolution und die erste Besetzung der Stasi-Bezirksverwaltung, die für Erfurt herausragend ist, wären nur am Rande erwähnt worden. Deshalb konnten weder die Gesellschaft für Zeitgeschichte noch die beteiligten Wissenschaftler dies akzeptieren.

Demgegenüber wollten wir eine Bildungs- und Gedenkstätte, die nicht nur die Vergangenheit darstellt und der Opfer gedenkt, sondern die auch ins heute und die Zukunft blickt und Mut zum Engagieren macht. Deshalb war für uns eine Ausrichtung auf Bildungsarbeit unabdingbar. Und dazu war es notwendig, bei den Erfahrungen des „DDR-Normalbürgers“ anzuknüpfen. 20 Jahre nach der Friedlichen Revolution war längst eine DDR-Nostalgie zu beobachten, die die angenehmen Erinnerungen verklärte und die belastenden ausblendete. Da erschienen Menschen, die aus politischen Gründen in der DDR im Knast gesessen hatten als eine fremdartige Minderheit. Zumal viele DDR-Bürger keinen Kontakt mit diesen gehabt hatten, und die inzwischen bis zu 20jährigen Nachgeborenen alles nur aus den Erzählungen der Eltern und Großeltern kannten. Ganz abgesehen von den Westdeutschen, von denen der größte Teil sich nie ernsthaft für die DDR interessiert hatte. Es musste also deutlich werden, warum diese DDR, „in der ja nicht alles schlecht war“, eben doch auch im Alltag eine Diktatur war.

Diese beiden gegensätzlichen Konzepte standen im Raum, und die beteiligten Wissenschaftler vertraten dieselben Ansichten wie wir.

Bei den Zeitzeugen von Freiheit e.V. entstand der Eindruck, dass sie nicht ausreichend beteiligt sind, ihre Anliegen und Vorstellungen nicht ausreichend einfließen. Das gipfelte immer wieder in einem grundsätzlichen Misstrauen gegenüber den handelnden Personen der Landesregierung und den beteiligten Wissenschaftlerinnen, woraus zahlreiche Vorwürfe an diese entstanden, die hoch emotional und auch immer wieder unsachlich vorgetragen wurden. Mehrere Presse-Artikel und Verlautbarungen zeugten davon.

Im Nachhinein erscheinen die emotionalen Beweggründe viel wichtiger als die Argumente. Wie, wenn nicht mit emotionaler Leidenschaft ist es sonst zu erklären, sich im Winter in solch unwirtliche Verhältnisse zu begeben, und sogar einen Hungerstreik zu beginnen?

Es ist die Genugtuung darüber, nun an diesem Ort, der mit Gewalt, tiefer Demütigung und Missachtung verbunden ist, „die Herren im Haus“ zu sein. Es ist die emotionale Entschädigung für das erlittene Unrecht, indem sie künftig an diesem Ort darüber aufklären können, jungen Leuten und anderen Besuchern ihre Erlebnisse erzählen und damit das Trauma noch ein Stück bewältigen können.

Das ist nachvollziehbar und auch heute noch die Motivation vieler, die sich als Zeitzeuge oft in hohem Maße ehrenamtlich engagieren. 

Zugleich liegt darin eine Gefahr:

Wie kann die Mitarbeit von Zeitzeugen gelingen, ohne das „Überwältigungsverbot“ des „Beutelsbacher Konsens“12 zu verletzen und den Besuchern, insbesondere auch Jugend- und Schülergruppen ein eigenständiges Urteil zu ermöglichen?

„Es ist nicht erlaubt, den Schüler - mit welchen Mitteln auch immer - im Sinne erwünschter Meinungen zu überrumpeln und damit an der "Gewinnung eines selbständigen Urteils" zu hindern. Hier genau verläuft nämlich die Grenze zwischen Politischer Bildung und Indoktrination. Indoktrination aber ist unvereinbar mit der Rolle des Lehrers in einer demokratischen Gesellschaft und der - rundum akzeptierten - Zielvorstellung von der Mündigkeit des Schülers.“13

Das allein den Zeitzeugen zu überlassen, wird dem Problem nicht gerecht. Natürlich kann von ihnen verlangt werden, dass sie sich dessen bewusst sind, dass sie das in ihren Gesprächen und bei Führungen beachten. Aber ohne, dass ihre emotionale Betroffenheit zu spüren ist, werden sie ihrer Aufgabe auch nicht gerecht.

In der Andreasstraße gelingt das durch mehrere Aspekte:

Zum einen, indem die immerwährende Spannung zwischen Anpassung und Aufbegehren des Lebens in der Diktatur deutlich wird. Die Darstellung des Alltags des Lebens in der Diktatur in der Dauerausstellung dient dem. Das eben auch in der Diktatur gelebt wird, mit den alltäglichen Sorgen und Freuden, zwischen Rückzug ins private und geforderter öffentlicher Zustimmung zum Staat.

Die Haftetage mit ihren weitgehend original erhaltenen Zellen und den in einigen gezeigten biografischen Dokumentationen gibt den Opfern ihre Würde zurück. Zugleich sind an den Türen außen noch die Reste der Siegel zu sehen, als die geretteten Akten hier eingelagert worden waren.

Insbesondere aber, indem die Friedliche Revolution mit derselben Aufmerksamkeit vermittelt wird. Das Viele, was dem vorausging, das Leben in Opposition mit seinen Freuden und Ängsten, das wachsende Engagement gegen die Militarisierung, die Umweltzerstörung, die Verweigerung der individuellen Menschenrechte und die Erziehung zum obrigkeitshörigen „sozialistischen Staatsbürger; für einen Frieden ohne Gewalt, einen ökologischen Umbau der Wirtschaft, echte politische Mitbestimmung und „für ein offenes Land mit freien Menschen“14.

Die Besucher sollen Nach-Denken und -Empfinden können, warum einerseits dieses System so lange bestehen und dann innerhalb kürzester Zeit unter den Massenprotesten so schnell zusammenbrechen konnte.

Letztlich, dass die Friedliche Revolution als die gelungene Überwindung der Diktatur etwas ist, was den Ostdeutschen zu verdanken ist und nun zu unserer gesamtdeutschen Geschichte gehört.

Eine Geschichtslehrerin, die schon oft mit Schülergruppen die Andreasstraße besucht hat, formulierte es so:15

„Die Andreasstraße ist ein Ort, den man nicht bedrückt verlässt."

In der Andreasstraße findet sich so zusammen, was in DDR-Gedenkstätten und -Museen nur selten gelingt. Dass die Menschen nach dem Besuch die Gedenk- und Bildungsstätte Andreasstraße ermutigt gehen und motiviert sind, sich in unsere Demokratie und Gesellschaft konstruktiv und verantwortungsvoll einzubringen.

Es ist der Geduld und dem Engagement aller Beteiligten an der Entstehung der Andreasstraße zu danken, dass seit nunmehr 10 Jahren eine achtungsvolle und konstruktive Zusammenarbeit zwischen den beteiligten Zeitzeugen, den beteiligten Vereinen, dem Stiftungsrat und der Leitung und den Mitarbeitenden in der Andreasstraße besteht.

Der Weg dahin hat viel Kraft gekostet. Es hat dabei auch Verletzungen gegeben. Aber wir haben uns nicht beirren lassen, haben immer wieder den Dialog gesucht. Das haben nicht alle getan, einige sind dabei auch verlorengegangen. Aber die sich auf den gemeinsamen Weg immer wieder eingelassen haben, haben erlebt, wie auf dieser Basis Vertrauen gewachsen ist, so dass auch die Zusammenarbeit im Thüringen-weiten „Geschichtsverbund“ aller Gedenkstätten, Einrichtungen und Initiativen zur Aufarbeitung der SED-Diktatur hier stattfindet.16

Und es sind die Mitarbeitenden, denen es gelingt, mit aktuellen pädagogischen Ansätzen Jugendliche und Schülergruppen für die Inhalte zu motivieren. Mit Comic- und Podcast-Workshops werden Jugendliche in ihrer Welt abgeholt und können sich so viel eher der unbekannten Welt des Lebens in der SED-Diktatur öffnen.

Die architektonische Gestaltung des neuen Erweiterungsbaus, des „Kubus der Friedlichen Revolution“, mit einem Comic-ähnlichen Wandbild aus dutzenden Fotos von 1989/90 scheint auf den ersten Blick so gar nicht zu einer „Gedenkstätte“ zu passen. Zum Domplatz hinüber sind davon die Worte „Keine Gewalt“ weithin erkennbar. Aber genau damit wird auch etwas vom Geist der Friedlichen Revolution deutlich.

 

 

Foto: Der Blick vom Domplatz zur Gedenk- und Bildungsstätte
(alle Fotos: Matthias Sengewald)

Anmerkungen


1 Laudatio für die Gedenk- und Bildungsstätte Andreasstraße Erfurt von Frau Dr. Ulrike Gilhaus, Leiterin LWL-Museumsamt für Westfalen, anlässlich der Verleihung des Museumspreises der Sparkassen-Kulturstiftung Hessen-Thüringen an die Gedenk- und Bildungsstätte Andreasstraße Erfurt am 1. Oktober 2021. http://gesellschaft-zeitgeschichte.de/andreasstrasse/laudatio-museumspreis -einges. 6.1.2023

2 Protokoll Mitgliederversammlung GfZ vom 7.12.2005 http://gesellschaft-zeitgeschichte.de/andreasstrasse-erfurt/der-weg-zur-bildungs-und-gedenkstaette/grundsatzbeschluss einges. 6.1.2023…

3 http://gesellschaft-zeitgeschichte.de/andreasstrasse-erfurt/der-weg-zur-bildungs-und-gedenkstaette/arbeitsgruppe-konzeption einges. 6.1.2023

4 Jetzt heißt sie: »Stiftung Ettersberg. Europäische Diktaturforschung – Aufarbeitung der SED-Diktatur – Gedenkstätte Andreasstraße https://stiftung-ettersberg.de/, bis 2011 „Stiftung Ettersberg zur vergleichenden Erforschung europäischer Diktaturen und ihrer Überwindung“. 

5 Texte auf den Transparenten:

  • Freiheit e.V. fordert Trägerschaft für Gedenkstätte - Hausbesetzung und Hungerstreik -von Stasi-Mielke verfolgt und vom Bildungsministerium verhöhnt
  • Gestern noch pol.(itisch) inhaftiert. Heute ehrenamtlich als Zeitzeugen arbeiten. Jetzt pol. ins Abseits gedrängt. Danke auch!
  • Eine Gedenkstätte ohne Zeitzeugen? – vermittelt keine authentische DDR-Geschichte, Herr Kultusminister. Freiheit e.V. fordert Trägerschaft u.(nd) Mitsprache!
  • Wir „Freiheit e.V.“ betrachten eure Stiftungsgründung als Enteignung der künft.(igen) Gedenkstätte. Dieser Akt ist eine pol.(itische) Beraubung unserer Identität. Wir haben ein Recht auf Mitsprache und Mitgestaltung.
  • Früher bei der Stasi litten wir an Zersetzung u.(nd) pol.(itischer) Haft. Heute leiden wir unter Machenschaften und Intrigen!
  • Eure faulen Tricks u.(nd) Spielchen haben wir endgültig satt. Wir fordern Mitsprache! 

6 Satzung der unselbständigen Stiftung "Gedenken - Erinnern – Lernen. Thüringer Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur" http://gesellschaft-zeitgeschichte.de/fileadmin/projekte/gfz/Dokumente/Andreasstrasse/Erlass_zur__Errichtung_der_Stiftung_Gedenken_-Andreasstrasse.pdf einges. 6.1.2023

7 Gemeinsame Erklärung http://gesellschaft-zeitgeschichte.de/andreasstrasse-erfurt/der-weg-zur-bildungs-und-gedenkstaette/gemeinsame-erklaerung einges. 6.1.2023

8 Vereinbarung der GfZ zur Zusammenarbeit mit der unselbständigen Stiftung http://gesellschaft-zeitgeschichte.de/andreasstrasse-erfurt/der-weg-zur-bildungs-und-gedenkstaette/vereinbarung einges. 6.1.2023

9 Beschlussvorlage für die Mitgliederversammlung des Freiheit e.V. am 14.5.2001 - Zukunft der Gedenkstätte Andreasstraße http://gesellschaft-zeitgeschichte.de/fileadmin/projekte/gfz/Dokumente/Andreasstrasse/Mitgliederversammlung_Freiheit_e.V14.5.2011.pdf; Jahresbericht 2010 Freiheit e.V. vom 14.5.2011 http://gesellschaft-zeitgeschichte.de/fileadmin/projekte/gfz/Dokumente/Andreasstrasse/Jahresbericht_2010_Freiheit_e.V.pdf

10 http://gesellschaft-zeitgeschichte.de/fileadmin/projekte/gfz/Dokumente/Andreasstrasse/Historiker-Zeitzeugen-Konzept-gesamt-22-okt-fuer_ag.pdf

11 Eine ausreichend durch Zahlen untersetze Quatifizierung kann hier nicht zur Begründung vorgelegt werden. Dies ist eine Aufgabe, die derzeit mit der sorgfältigen Auswertung der Akten aller Inhaftierten durch die Andreasstraße erfolgt. Von den 15 Bezirken der DDR hatten 9 direkte Grenzen zur Bundesrepublik und Westberlin, die Bezirke mit den längsten Grenzen waren Magdeburg, Suhl, Schwerin, Erfurt. Siehe dazu: https://www.chronik-der-mauer.de/material/164693/statistiken

12 Diese Grundlage und Zielsetzung politischer Bildung wurde auf Tagung der Baden-Württembergischen Landeszentrale für politische Bildung im schwäbischen Beutelsbach 1976 formuliert https://www.bpb.de/die-bpb/ueber-uns/auftrag/51310/beutelsbacher-konsens/

13 Hans-Georg Wehling (1977): Konsens à la Beutelsbach? Nachlese zu einem Expertengespräch. In: Siegfried Schiele / Herbert Schneider (Hrsg.): Das Konsensproblem in der politischen Bildung. Stuttgart, S. 173 - 184, hier S. 179f.

14 Ein Transparent mit dieser Losung trugen junge Oppositionelle in Leipzig bei einer der ersten Demonstrationen am 4.9.1989

15 Hans-Joachim Veen in seiner Festrede zur 10jährigen Eröffnung des Hauses am 3.12.2022

16 https://geschichtsverbund-thueringen.de/