Der Berliner Appell 

Im Dezember 1981 arbeiteten der Systemkritiker Robert Havemann und der Pfarrer der Friedrichshainer Samaritergemeinde Rainer Eppelmann zusammen einen Abrüstungsaufruf aus, der die Regierungen beider deutscher Staaten dazu aufforderte, ungeachtet ihrer Blockeinbindungen, in Abrüstungsverhandlungen zu treten.

Als der Berliner Appell am 25. Januar 1982 veröffentlicht wurde, hatten ihn schon etwa 80 Personen, darunter auch viele Friedrichshainer Jugendliche, unterzeichnet. SED-Chef Erich Honecker entschied nicht, wie vom Staatssekretariat für Kirchenfragen vorgeschlagen, die Kirche in belehrenden Gesprächen unter Druck zu setzen und zu Maßnahmen gegen Eppelmann zu bewegen, sondern verlangte, gegen Eppelmann „nach Gesetz“ zu verfahren. Darauf wurde Reiner Eppelmann am 9. Februar 1982 verhaftet. Zwar wurde er zwei Tage später nach Intervention der Kirchenleitung wieder entlassen, doch wurde dies mit der Auflage an die Kirche verbunden, Eppelmann zu disziplinieren. Offiziell distanzierte sich die Kirche von ihm und erklärte, dass im Berliner Appell ein „Zerrbild von den politisch Verantwortlichen gezeichnet“ würde. Reiner Eppelmann wurde vorgeschlagen, in den Westen auszureisen, was dieser ablehnte.

Die Kirchenleitung sammelte die Unterschriftenlisten mit der Begründung wieder ein, die Jugendlichen vor dem MfS schützen zu wollen, die den Appell unterzeichnet hatten. Kritiker monierten, dass die Kirchenleitung lediglich an einem angenehmen Staat-Kirche-Verhältnis interessiert sei.

Der Berliner Appell war der erste große Konflikt zwischen Vertretern einer Basisinitiative und der Kirchenleitung. Die Gruppen reagierten mit der Organisation der Friedenswerkstatt in der Lichtenberger Erlösergemeinde, an der auch der Friedenskreis Samariter teilnahm, der 1987 in eine Initiative zur Gründung der Kirche von Unten führen sollte.

Original-Abschrift des Berliner Apells (S.1) 

Text

Frieden schaffen ohne Waffen

1
Es kann in Europa nur noch einen Krieg geben, den Atomkrieg. Die in Ost und West angehäuften Waffen werden uns nicht schützen, sondern vernichten. Wir werden alle längst gestorben sein, wenn die Soldaten in den Panzern und Raketenbasen und die Generäle und Politiker in den Schutzbunkern, auf deren Schutz wir vertrauten, noch leben und fortfahren zu vernichten, was noch übrig geblieben ist.

2
Darum: Wenn wir leben wollen, fort mit den Waffen ! Und als erstes: Fort mit den Atomwaffen ! Ganz Europa muß zur atomwaffenfreien Zone werden. Wir schlagen vor: Verhandlungen zwischen den Regierungen der beiden deutschen Staaten über die Entfernung aller Atomwaffen aus Deutschland

3
Das geteilte Deutschland ist zur Aufmarschbasis der beiden großen Atommächte geworden. Wir schlagen vor, diese lebensgefährliche Konfrontation zu beenden. Die Siegermächte des 2. Weltkrieges müssen endlich die Friedensverträge mit den deutschen Staaten schließen, wie es im Potsdamer Abkommen von 1945 beschlossen worden ist. Danach sollten die ehemaligen Alliierten ihre Besatzungstruppen aus Deutschland abziehen und Garantien über die Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten der beiden deutschen Staaten vereinbaren.

4
Wir schlagen vor, in einer Atmosphäre der Toleranz und der Anerkennung des Rechts auf freie Meinungsäußerung die große Aussprache über die Fragen des Friedens zu führen und jede spontane Bekundung des Friedenswillens in der Öffentlichkeit zu billigen und zu fördern. Wir wenden uns an die Öffentlichkeit und an unsere Regierung, über die folgenden Fragen zu beraten und zu entscheiden:

a) Sollten wir nicht auf Produktion, Verkauf und Einfuhr von sogenanntem Kriegsspielzeug verzichten ?
b) Sollten wir nicht anstelle des Wehrkundeunterrichts an unseren Schulen einen Unterricht über Fragen des Friedens einführen ?
c) Sollten wir nicht anstelle des jetzigen Wehrersatzdienstes für Kriegsdienstverweigerer auch einen sozialen Friedensdienst zulassen ?
d) Sollten wir nicht auf alle Demonstrationen militärischer Machtmittel in der Öffentlichkeit verzichten und unsere staatlichen Feiern stattdessen dazu nutzen, den Friedenswillen des Volkes kundzutun ?
e) Sollten wir nicht auf die Übungen zur sogenannten Zivil-Verteidigung verzichten ? Da es im Atomkrieg keine Möglichkeit einer sinnvollen Zivil-Verteidigung gibt, wird durch diese Übungen nur der Atomkrieg verharmlost. Ist das nicht womöglich eine Art psychologischer Kriegsvorbereitung ?

5
Frieden schaffen ohne Waffen – das bedeutet nicht nur: Sicherheit zu schaffen für unser eigenes Überleben. Es bedeutet auch das Ende der sinnlosen Verschwendung von Arbeitskraft und Reichtum unseres Volkes für die Produktion von Kriegswerkzeug und die Aufrüstung riesiger Armeen junger Menschen, die dadurch der produktiven Arbeit entzogen werden. Sollten wir nicht lieber den Hungernden in aller Welt helfen, statt fortzufahren, unseren Tod vorzubereiten ?

Selig sind die Sanftmütigen,
denn sie werden das Erdreich besitzen

(Jesus von Nazareth in der Bergpredigt)

Das Gleichgewicht des Schreckens hat den Atomkrieg bisher nur dadurch verhindert, daß es ihn immer wieder auf morgen vertragt hat. Vor diesem herannahenden Morgen des Schreckens fürchten sich die Völker. Sie suchen nach neuen Wegen, dem Frieden eine bessere Grundlage zu geben. Auch der „Berliner Appell“ ist ein Ausdruck dieses Suchens. Denkt über ihn nach, macht unseren Politikern Vorschläge und diskutiert überall die Frage: Was führt zum Frieden, was zum Kriege?

Bekräftigt Eure Zustimmung zum „Berliner Appell“ durch Eure Unterschrift.

Berlin, den 25. Januar 1982
Rainer Eppelmann
1125 Berlin, Niehofer Str. 40