Vom Aufbau der Gedenkstätte

Festrede anlässlich der vor 10 Jahren erfolgten Eröffnung der Gedenk- und Bildungsstätte, gehalten vom langjährigen Vorstandsvorsitzenden der Stiftung Ettersberg, Prof. Dr. Hans-Joachim Veen.
Erfurt, 3.12.2022

So kurz und präzise, wie Prof. Ganzenmüller das Thema formuliert hat, ist die Geschichte des Aufbaus der Gedenk- und Bildungsstätte Andreasstrasse nicht. Prof. Maser hat schon 2011 einen kenntnisreichen Aufsatz über den „langen Weg in die Andreasstrasse“ geschrieben. Außerdem war dieser Weg wechselvoll und oft kräftezehrend.

In ihrer heutigen Gestalt hat die Andreasstraße nicht nur eine Geschichte, sie hat viele eindrucksvolle Vorgeschichten seit der Besetzung der MfS - Zentrale am 4. 12. 1989 durch die couragierten Frauen und Männer des Erfurter Bürgerkomitees, seit der Bewahrung des Gebäudes vor dem Abriss 2004 und seit den beeindruckenden Kunstausstellungen "Einschluss I - III ", die Manfred May hier von 2005 - 2007 kuratiert hat, um der Umgestaltung zu einem Gedenkort Nachdruck zu verleihen. Bereits Ende August 2007 liegt eine erste Konzeption für die Gedenk- und Bildungsstätte Andreasstraße vor, gedankenreich, differenziert, zukunftsorientiert, 46 Seiten lang. Sie " stellt den Versuch dar, für heutige und zukünftige Generationen eine Möglichkeit zu schaffen, über die deutsche diktatorische Vergangenheit nachzudenken und aus dieser für die aktuelle Lebenswirklichkeit zu lernen." Autor ist Peter Wurschi unter Mitwirkung von Ulrike Schulz, Aufraggeber die Gesellschaft für Zeitgeschichte. Dem Verein mit Barbara und Matthias Sengewald verdanken wir auch ein vorzügliches Archiv der Geschichte der Andreasstraße. Wurschis Vision ist ein offener Lernort für politische Bildungsarbeit am authentischen Ort unter Würdigung der Opfer der SED - Diktatur, aber auch mit Blick auf die Friedliche Revolution. Hier wurden früh Elemente der Konzeption der Stiftung Ettersberg skizziert, die sich von Anfang an entschieden für die Bipolarität von Unterdrückung und Befreiung an diesem Ort einsetzte und das Ziel hatte, das Gedenken an die Opfer der Stasi in den Kontext des diktatorischen Herrschaftssystems der SED zu stellen und darüber hinaus die Überwindung dieser Diktatur durch die demokratische Revolution von 1989 zu erzählen, den Triumph der Freiheit über die Gewaltherrschaft.

Mit dieser Konzeption hatten wir unseren Willen zur Trägerschaft bereits kurz nach der Entscheidung der Stadt Erfurt und der Landesregierung 2005 bekundet, die Andreasstraße zu einem Gedenkort auszubauen. Unsere Vorstellungen stießen sofort auf scharfe Ablehnung seitens der Landesbeauftragten für die Stasi- Unterlagen und von Teilen der Opfervereine und ehemaliger Häftlinge, die die Opfer der Gewaltherrschaft ins Zentrum des Gedenkortes stellen wollten. Damit begann eine jahrelange, sehr kontrovers und grundsätzlich geführte öffentliche Auseinandersetzung über die richtige Konzeption und den richtigen Träger mit zahlreichen publizistischen Wortmeldungen und einer lebhaften Berichterstattung, in der Hanno Müller von der TA professionell glänzte, in dem er den beiden durchaus legitimen Positionen Raum gab. Während dieser Kontroverse haben mir besonders Prof. Peter Maser sowie Barbara und Matthias Sengewald immer wieder hilfreich und publizistisch aktiv zur Seite gestanden. Sie haben großen Anteil am Erfolg der Andreasstraße in ihrer heutigen zukunftsweisenden Gestalt. Das TMBWK setzte dem Streit nach Jahren des vorsichtigen Abwartens 2009 einen vorläufigen Schlusspunkt, indem es die unselbständige Stiftung " Gedenken - Erinnern - Lernen" ins Leben rief und als vorübergehende Trägerin einsetzte. Direktor dieser Stiftung wurde Peter Hanske, der im DDR- Gedenkstättenreferat auch unsere Stiftung beaufsichtigte. Ihm hat die Stiftung Ettersberg über meine ganze Amtszeit (2002-2014) hinweg und darüber hinaus viel zu verdanken, weil er bei aller Scharfsichtigkeit und Unbestechlichkeit der Kontrolle ein großes Herz für eine primär wissenschaftlich geführte Stiftung hatte und mehrfach half, haushälterische Hürden, juristisch korrekt versteht sich, zu überwinden. Hinter ihm stand eine wohlwollend-umsichtige Referatsleiterin, Frau Heinemann, die schon in der Staatskanzlei unter Ministerpräsident Bernhard Vogel die Gründung der Stiftung Ettersberg vorbereitet hatte.

Der Weg der Andreasstraße in die Stiftung Ettersberg verlief dann klassisch politisch: Ich verkürze hier eine viel längere, teilweise dramatisch wechselvolle Geschichte, die man bei Peter Maser in seinem schönen kritischen Aufsatz " Der lange Weg in die Andreasstraße" in Band 18 unserer Schriftenreihe, erschienen 2012, detailliert nachlesen kann. Minister Matschie berief 2010 eine Historikerkommission ein, die im Frühjahr 2011 u. a. den Zusammenschluss der unselbständigen Stiftung mit der Stiftung Ettersberg empfahl, aus institutionellen und aus konzeptionellen Gründen. In den Worten des Ministeriums drei Jahre später als Antwort auf eine Große Anfrage der Linkspartei 2014   entstand auf diese Weise “ein Kompetenzzentrum von internationaler Strahlkraft, das europäische Diktaturforschung und Erinnerungskultur am historischen Ort beispielhaft verbindet."(Lt-Drucksache 5/8041). Dieser Charakterisierung der Stiftung Ettersberg ist m. E. nichts hinzuzufügen.

Die Fusion der beiden Stiftungen und damit unsere Trägerschaft wurde am 16.6.2012 rechtswirksam. Dabei verpflichtete sich die Stiftung Ettersberg auch, die VOS Thüringen, Bezirksgruppe Erfurt, die Gesellschaft für Zeitgeschichte und Freiheit e. V. Förderverein Gedenkstätte Andreasstraße in die Gedenkstätte einzubinden - eine Forderung, die, glaube ich, zur Zufriedenheit aller erfüllt worden ist. Zuvor aber musste die Satzung der Stiftung Ettersberg mit 2/3- Mehrheit der satzungsmäßigen Stimmen des Beirats geändert werden. Das gelang unter einigermaßen hektischen Umständen, unter Zeitdruck und unsicheren Mehrheitsverhältnissen in einer Sondersitzung, die ich kurzerhand für den 15.Dezember 2011 auf den Flughafen Frankfurt a.M. einberufen hatte. Diese Ad-hoc-Operation hat unsere Vorstandsekretärin Frau Frank wie vieles andere auch perfekt organisiert.

Seither ist die Stiftung der Europäischen Diktaturforschung, der Aufarbeitung der SED- Diktatur und der Gedenk- und Bildungsstätte Andreasstraße gewidmet und nicht mehr nur der vergleichenden Erforschung europäischer Diktaturen und ihrer Überwindung.

Als am 1.2.2012 Dr. Voit als Leiter der Andreasstraße seine Arbeit aufnahm, war das Fundament bereits gelegt, das Konzept beschlossen, sodass der Aufbau im engeren Sinne beginnen konnte: die Gestaltung der Haftetage, des Freihofs, der ambitionierten Dauerausstellung über das Herrschaftssystem der SED und nicht zuletzt des Kubus der Friedlichen Revolution. Dazu berief der Vorstand für die letztentscheidende konzeptionelle Begleitung unter meiner Leitung die Professoren Maser, Oppelland und Eckert (den langjährigen Direktor des Zeitgeschichtlichen Forums Leipzig) sowie Dr. Neubert, der aber bald nicht mehr erschien. Dr. Voit leitete die wissenschaftliche Arbeitsgruppe mit Cornelia Herold, Christine Metag, Dr. Sebastian Schlegel, Jan Wünsche und Dr. Wurschi. Beide Gremien tagten abgestimmt mehrmals im Monat am Ort, um Themensetzungen, Texte, Bilder und Ausstellungsobjekte zu diskutieren und freizugeben. Das funktionierte ziemlich reibungslos, auch weil sich die Ausststellungsagentur COCMOC aus Leipzig mit ihrem jungen und unorthodoxen Team dabei als anregende und verlässliche Partnerin erwies. Eine wichtige Entscheidung stand aber im Frühjahr 2012 noch aus: Die Außengestaltung des Kubus. Die bisherigen Vorschläge erinnerten eher an eine Kaaba und überzeugten uns nicht. Da brachte Dr. Voit die mutige Idee in die Diskussion, den jungen Erfurter graphic novel Künstler Simon Schwarz mit der Außengestaltung zu betrauen: Motive der Revolution in Thüringen im comic- Format. Wir waren rasch begeistert, aber der noch zuständige Staatssekretär Prof. Deufel war es nicht. Ganz Politiker machte er zur Bedingung, dass alle an der Andreasstraße beteiligten Vereine zustimmen müssten, was angesichts der konfligenten Vorgeschichte eine hohe Hürde war. So zogen denn an einem Wochenende Dr. Voit und ich mit einem langen aufgerollten Poster der vier Außenseiten des Kubus zu der vermuteten höchsten Hürde, dem Büro der VOS, um den Vorsitzenden Herrn Meyer behutsam und wortreich von unserer progressiven Lösung zu überzeugen. Es war nicht einfach, aber es gelang. Bei den weiteren Beteiligten ging es rascher, soweit ich mich erinnere.

Am Ende waren es viele Köchinnen und Köche, die mitrührten, um die Andreasstraße zu dem zu machen, was sie wurde und nach 10 Jahren ist: ein mehrdimensionaler vitaler Gedenk- und Lernort mit Vorbildcharakter, mehrfach preisgekrönt und vielgelobt in der Aufarbeitungs-Community, u. a. von Roland Jahn und Dr. Markus Pieper, dem jetzigen Direktor der Sächsischen Gedenkstättenstiftung. Prof. Eckert schreibt in seinem neuen, noch unveröffentlichten Buch "Getrübte Erinnerungen", einer Chronik der Aufarbeitung, dass er "stolz " sei, an diesem " hervorragenden Ort der Auseinandersetzung mit der SED- Diktatur " mitgewirkt zu haben. Ich bin es auch, wie viele es sein können, die heute hier sind. Alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Stiftung Ettersberg können es sein. Vor allem aber können es die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dieses Hauses sein, die in den letzten zehn Jahren alles richtig gemacht haben, die die Erinnerung an die Opfer, die Würdigung der friedlichen Revolutionäre, politische Information und kritische Auseinandersetzung mit der SED- Diktatur gleichermaßen lebendig vermittelt haben. Sie haben einen Lernort geschaffen, "den man nicht bedrückt verlässt", wie es eine Schulleiterin aus dem Rheinland einmal treffend resümierte. Eine Gedenkstätte, die man nicht bedrückt verlässt, in der man viel gelernt hat- genau das war unser Ziel und das sollte es bleiben.  Herzlichen Glückwunsch dem Haus und der ganzen Stiftung Ettersberg. Machen Sie weiter so.