Die "demokratische Wahl" mit der Einheitsliste

Wahlen wurden in der DDR oft als "Zettelfalten" bezeichnet. Denn auf dem Wahlschein standen zwar mehrere Namen, die aber alle zu einer Einheitsliste zusammengestellt waren. Eine Aus-Wahl zwischen verschiedenen Parteien und Kandidaten war nicht vorgesehen. Der Wähler konnte nur der Einheitsliste zustimmen - indem er diese, nachdem er sie unter Vorlage seiner Wahlbenachrichtigung und des Personalausweises erhalten hatte, zusammen faltetete und in die Wahlurne einwarf. Deshalb "Zettelfalten"

Wer seine Ablehnung kundtun wollte, musste fein säuberlich alle Namen durchstreichen. Alles andere war ungültig. Was natürlich auffiel und der Benachrichtigung an die alles überwachende Stasi sehr zuträglich war. Dazu konnte er natürlich auch in eine Wahlkabine gehen. Wer aber diese überhaupt brauchte, tat damit kund, dass er in irgend einer Weise nicht mit "der Mehrheit des Volkes" übereinstimmte, also verdächtig war. Zu alledem lag in den Wahlkabinen in der Regel nur ein Bleistift mit sehr harter Mine, der meist zum Zerreißen und damit ungültig-Machen des Zettels führte.

Damit sind die "traumhaften" Ergebnisse der Wahlen in der DDR jenseits der 98% erklärlich. Dass sie dennoch nicht stimmten, sondern zusätzlich geschönt waren, lag daran, dass die Wahlen ja nicht der Bestimmung der Kandidaten dienen sollte, sondern als "Bekenntnis des Volkes" zur Sozialistischen DDR gefeiert wurde. Und dieses Bekenntnis konnte ja nicht weniger, sondern musste mehr werden.

Wer dann aber danach fragte, wie dies denn eine demokratische Wahl sein konnte, dem wurde erklärt, dass er die sozialistische Demokratie nur noch nicht verstanden hatte (Wie immer, wenn Kritik geäußert wurde):

Die "Wahl" bestand nämlich in der Aufstellung eben dieser Einheitsliste, wo sich "natürlich alle Bürger" beteiligen konnten. In Wahlversammlungen der SED, der Blockparteien, des FDGB (der Einheitsgewerkschaft), der FDJ (dem Einheits-Jugendverband) usw. wurden die Kandidaten, nachdem sie auf ihre Eignung für den weiteren Aufbau des Sozialismus geprüft wurden, bestimmt. Wenn das nicht demokratischer ist als nur die Auswahl zwischen einigen Parteien zu haben - ja, dann hat eben Max Müller oder Nele Niemand die sozialistische Demokratie noch nicht verstanden...

Natürlich überließ die SED die Kandidatenaufstellung nicht dem Zufall. Aber sie hatte längst in all den "Blockparteien" und "Massenorganisationen" willfährige Helfer.

Versuche, die Wahlen zu demokratisieren

Ende der 80er Jahre war klar, dass sich die inzwischen an ganz vielen Orten in der DDR vorhandenen "Basisgruppen" nicht mehr mit diesem Wahlsystem abspeisen lassen würden. Bereits 1986 hatte es unter Berliner Gruppen Bemühungen gegeben, den Wahrheitsgehalt der Wahlergebnisse zu überprüfen. Das war aber an der geringen Zahl der Auszählungen gescheitert, obwohl es deutliche Hinweise auf nicht korrekte Ergebnisse gab. Auch die Bausoldaten hatten 1984 in Prora den Wahlbetrug aufgedeckt. 

Im Sommer 1988 erschien ein Samisdat mit den Bestimmungen zu den Wahlen und dem Aufruf, sich in die Aufstellung der Kandidaten einzumischen. Klar war außerdem, dass es an verschiedenen Orten zur Beobachtung der Wahlen kommen würde.

Dass die SED dann doch so weitermachte, als wäre nichts, bleibt eines der Rätsel dieser Zeit.

Der Versuch der Listenaufstellung und die Wahlbeobachtung in Erfurt.

Einige wenige kritische Mitglieder der CDU in Erfurt, die teilweise auch in anderen Basigruppen aktiv waren, wagten den Versuch, einen eigenen Kandidaten in der Einheitsliste zu plazieren. Als geeignetster Mann erschien ihnen der Pfarrer der Stadtmission, Helmut Hartmann. Er war durch seine Verantwortung für die soziale Arbeit dieser Evangelischen Einrichtung in der Stadt als vermittelnder Pfarrer, der gemäßt seinem biblischen Leitspruch "Suchet der Stadt Bestes" handelte, bei der SED-Oberbürgermeisterin und den Genossen der Stadtverwaltung gut bekannt. Zugleich hatte er die Stadtmission für die Basisgruppen geöffnet.

Der Versuch war unter den Bedingungen der DDR zum Scheitern verurteilt, die paar CDU-Mitglieder setzten ihn nicht durch.

Aber unter den Basisgruppen ging der Aufruf um, am Wahltag bei der öffentlichen Auszählung nach der Schließung der Wahllokale bei der Auszählung dabei zu sein und die Ergebnisse zu notieren. Nach 19 Uhr war als Treffpunkt die ESG ausgemacht, um die Ergebnisse zusammenzutragen.

Der Wahltag

Ich kann mich noch gut an diesen Tag erinnern: Gegen 12 Uhr klingelten an meiner Wohnungstür "Wahlhelfer". Höflich wurde ich an meine "Wahlpflicht" erinnert und mitgeteilt, dass ich noch nicht im Wahllokal erschienen sei. Auch das gehörte zum DDR-Ritual des "Zettelfaltens": möglichst alle sollten ihr "Ja" zum Sozialismus abgeben - also Wählen gehen. Und diesem "Ehrenrecht" kommt der bewusste DDR-Bürger natürlich umgehend nach.

Als ich erklärte, dass ich kurz vor Schluss kommen würde, weil ich dann zu öffentlichen Auszählung bleiben wollte, löste das ungläubige Verwunderung aus.

Ich bin dann eine Viertelstunde vor Schluss ins Wahllokal gegangen, habe in der Kabine den Zettel zur "Nein-Stimme" gemacht und eingeworfen.

Als das Wahllokal dann schloss, wurden wir alle hinausgebeten. Auf meinen Einwand, dass wir bei der öffentlichen Auszählung dabei sein wollten, wurde mitgeteilt, dass wir an der dann wieder geöffneten Tür stehend die Auszählung beobachten könnten. Was ich dann mit einigen anderen auch tat. Der Wahlleiter stapelte die auseinandergefalteten Zettel säuberlich auf einen Haufen für die JA-, einen für die NEIN- und einen für die ungülitigen Stimmen. Wir konnten keineswegs sehen, ob die Zettel wirklich auf den richtigen Haufen kamen. Dennoch wurden auch einige NEIN- und ungültige Stimmen abgelegt. Dann wurde das Ergebnis verlesen: Etwa 5% der Stimmen waren ungültig, weitere 5% Nein-Stimmen. 

Mit diesem Ergebnis und den konkreten Zahlen ging ich dann zur ESG. Andere hatten ähnliche Ergebnisse. Letztlich zählten wir in 26 der insgesamt 213 Wahllokale 630 Nein-Stimmen.

Nun konnten wir nur noch warten und hoffen, dass die SED und die Stasi uns nicht noch einen Strich durch die Rechnung machten, indem sie wenigstens etwas der Wahrheit näher kamen. Obwohl, wie wir heute wissen, mindestens ein zuverlässiger Spitzel (IMB "Schubert") mit in der ESG war, verkündete die SED-Zeitung am Montag ganz offiziell, dass in ganz Erfurt ganze 413 Stimmen gegen die Einheitsliste abgegeben wurden... Der Wahlbetrug war offensichtlich.

(Anmerkung: Die etwas variierende Zahl der NEIN-Stimmen in den verschiedenen Berichten liegt zum einen in der nach vielen Jahren etwas verblassten Erinnerung begründet, zum anderen in dem Umstand, dass es Unklarheiten gab, ob ein Teil-Ergebnis richtig gezählt worden war.)

Nachspiel

Die Aufdeckung des Wahlbetrugs veranlasste die Besisgruppen zusammen mit Pfarrer Hartmann zum Widerspruch in der einzig in der DDR möglichen form als Eingabe an die Wahlkomission.

Die Antwort kam in der üblichen Form, als Gespräch mit der Kirchenleitung im Kirchenkreis. Der Vorwurf der Wahlfälschung wurde entschieden zurückgewiesen. Eine solche Behauptung stellt eine Beleidigung und Diskriminierung der Mitglieder wer Wahlkomissionen dar. Das Wahlergebnis beruht auf exakten Wahlniederschriften...

Der Inhalt der Eingabe und die Antwort wurden daraufhin am nächsten Sonntag in allen Evangelischen Kirchen bekanntgegeben. Ein Flugblatt wurde mit der Wachsmatritzen-Vervielfältigungsmachine, die auf dem Boden des Stadtjugendpfarrers Aribert Rothe stand, hergestellt. Aber bevor die 1500 Flugblätter verteilt werden konnten, griff die Stasi zu: Einer der am Druck Beteiligten war Spitzel der Stasi...

Aber ein weiteres Flugblatt und die Gespräche der beteiligten Mitglieder der Basisgruppen machten den Wahlbetrug darüber hinaus in Erfurt und in der DDR bekannt.

Es hat dann auch in Erfurt einige Bemühungen gegeben, Anzeige wegen Wahlbetrugs zu stellen. Immerhin sah das Strafgesetzbuch der DDR für diesen Fall Gefängnis bis zu 5 Jahren vor. Letztlich sind diese Bemühungen von der Friedlichen Revolution im Herbst desselben Jahres überrollt worden.

 

Matthias Sengewald