Und was hast du 1989 getan?
Hohenschönhausen: Die Gedenkstätte könnte eine echte Vorreiterrolle bei der Neuausrichtung der Aufarbeitung übernehmen, wenn jene jüngeren zum Zug kämen, die all diese Auseinandersetzungen der letzten Jahrzehnte nicht verstrickt waren und die Aufarbeitung und Wissenschaft endlich zusammenbringen können, ohne sich des Verdachts auszusetzen, irgendwas verharmlosen zu wollen.
Süddeutsche Zeitung Nr 244, 23. 11. 2018
Die Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit sollte die Demokratie befördern. Sie hat ihr Ziel verfehlt. Und das ist nicht mal das Schlimmste. Ein Gastbeitrag des Historikers Ilko-Sascha Kowalczuk.
Hubertus Knabe twitterte einen Tag nach seiner Entlassung als Direktor: "Mit großer Leidenschaft habe ich mich dem Aufbau von @StasiGefaengnis gewidmet." Mmh, möchte man grummeln, ist das nicht eine Gedenkstätte? Er verwechselte nicht zum ersten Mal seine Rolle dort. So auch Wolf Biermann gegenüber. Dieser griff es auf und schrieb ihm im März 2011: „In unserem Gespräch im Foyer hast Du gewitzelt, daß Du nach all den Jahren als Leiter der Gedenkstätte der älteste Häftling des Stasi-Knastes Hohenschönhausen bist. Das scheint ein Running Gag von Dir zu sein. Ich dachte mir, sagte es aber nicht: Mein lieber Hubertus, Du ehrgeiziger Knabe, Du möchtest Disteln köpfen, willst aus diesem Gefängnis endlich entlassen werden..."
Wie in der DDR setzte die Gedenkstätte Hohenschönhausen noch immer auf Überwältigung
Hubertus Knabe war bis zu seiner Entlassung am 25. September 2018 achtzehn Jahre Direktor der Gedenkstätte Hohenschönhausen, des ehemaligen zentralen Untersuchungsgefängnisses des Ministeriums für Staatssicherheit. Jährlich kommen fast eine halbe Million Besucher. Knabe musste gehen, weil er viele Jahre sexistische Strukturen verschleierte und damit mittrug.
Die zitierten Extreme deuten an, dass es womöglich ohnehin höchste Zeit gewesen ist, dass er ein neues berufliches Betätigungsfeld findet. Wenn Menschen zu lange unhinterfragt auf Posten sitzen, deformiert das die Posten, nicht selten auch die amtsausübenden Personen. Davon blieb auch die Aufarbeitung der SED-Diktatur nicht verschont.
Die DDR-Aufarbeitung war mit dem Grundsatz angetreten, die Demokratie im Osten zu befördern. Zuletzt haben zwei Vorgange Unruhe unter die Aufarbeiter gestreut. Zeigten die rassistischen Vorgänge in Ostdeutschland, etwa in Chemnitz, dass die Aufarbeitung der letzten 25 Jahre fruchtlos blieb? Haben im Osten zu viele die Demokratie nicht begriffen, von Diktaturen zu schweigen? Und ist die bisherige Aufarbeitung, wie manche orakeln, in Gefahr, weil ein Oberaufarbeiter, Hubertus Knabe, seinen Hut nehmen musste?
Natürlich ist sie nicht deswegen gescheitert oder auch nur in Gefahr. Knabe fand bis heute keine Worte des Bedauerns für die Frauen, die unter den Übergriffen zu leiden hatten. Von jemandem, der sich professionell mit Aufarbeitung von Schuld beschäftigt, ist dies das Mindeste, was man erwarten dürfte. Der Rausschmiss war also kein Racheakt, sondern ein politisches Zeichen, Sexismus überall den Kampf anzusagen. Überfällig ist auch, über das von Knabe vertretene Gedenkstättenkonzept zu sprechen. Unter seiner Verantwortung war die Gedenkstätte mit einer Überwältigungsstrategie versehen worden: Niemand sollte aus dem Lernort herauskommen und eine andere Auffassung als der Gedenkstättenleiter über die DDR haben. Im Prinzip erinnert seine Einrichtung an die Mahn- und Gedenkstätten der DDR - auch dort führten einstige Häftlinge die Besucher durch die Ausstellungen. Mit Holzhammerargumenten wurde allen eingetrichtert, dass es nur eine Wahrheit gebe, und diese führe gesetzmäßig zur DDR. Nur hier würde das Erbe des Antifaschismus richtig bewahrt.
Hatte diese Antifaschismuspädagogik etwas mit den neofaschistischen Umtrieben in den Achtzigern und Anfang der Neunzigerjahre im Osten zu tun? Ja, da sind sich die Experten einig. Nun muss sich auch die DDR-Aufarbeitung, nicht nur wie Knabe sie vertritt, unangenehme Fragen gefallen lassen. Die unangenehmste vielleicht: Hat sie mit dazu beigetragen, was gegenwärtig im Osten geschieht? Hat sie ihre Aufgabe, Demokratie zu befördern, verfehlt?
In der Aufarbeitungslandschaft ist zu beobachten, dass in vielen Institutionen – die erfolgreiche Berliner Mauergedenkstätte ist eine rühmliche Ausnahme! – Personen Verantwortung tragen, die dafür „nur" durch ihre Biografie, nicht aber wegen einer professionellen Ausbildung in Museumsdidaktik, Geschichtspädagogik, Geschichts- oder Politikwissenschaften qualifiziert sind,
Keine Frage, es war von hoher symbolischer Bedeutung, dass Oppositionelle und Opfer der SED-Diktatur den kommunistischen und postkommunistischen Geschichtsmärchen ihre lebensgeschichtliche Wucht entgegenhielten. Die Aufarbeitung in den Neunzigern stand im Zeichen der Revolution. Endlich konnten mithilfe der Regime-Archive jene Geschichten und Biografien öffentlich gemacht werden, die zuvor brutal unterdrückt worden waren. Aufarbeitung ist im Gegensatz zur Geschichtswissenschaft ein geschichtspolitisches Anliegen. Es geht nicht um Differenzierung, sondern um Anklage, Demaskierung, Entblößung, darum, mit Geschichtsbildern etwas zu legitimieren. Deshalb stehen Aufarbeitung und Wissenschaft in ständiger Konfrontation miteinander. Wenn letztere Alltag und Gesellschaft in ihren vielschichtigen Erscheinungen analysieren will, so wirft ihr erstere Verharmlosung und Schönfärberei vor. Konzentriert sich die Aufarbeitung auf Mauertote, Opposition und Widerstand, Haftanstalten und politische Justiz, bemängelt die professionelle Forschung, hier würde ein einseitiges Bild gemalt, das Schwarz und Weiß, aber keine Grautöne kenne.
Nach dem Sturm auf die Stasi 1990 wurde die Geschichte zu einem politischen Kampfmittel - und von allen Seiten intensiv benutzt. Neuartige Institutionen, parlamentarische Untersuchungsausschüsse und Kommissionen, eine neue Stiftung, Museen, Gedenkstätten sowie Vereine und Verbände bis hin zu Akten, die darüber entschieden, ob jemand zukunftstauglich sei oder nicht, ließen nicht nur eine flächendeckende Aufarbeitungslandschaft entstehen, sondern warfen auch viele Fragen auf. Was hat die Regelüberprüfung auf Stasi-Tätigkeit eigentlich mit den Seelen der Überprüften gemacht, ob nun belastet oder nicht? Viel Platz für Differenzierung blieb da nicht. Dies umso weniger, da nur diese eine Institution, das Ministerium für Staatssicherheit, zum Beelzebub erklärt wurde. Ihr Auftraggeber, die SED, blieb unbeachtet. Was für eine schreiende Ungerechtigkeit! Im Nachhinein erscheint die Stasi-Überprüfung wie eine Beruhigungspille für die Mitläufergesellschaft.
Die Bürgerrechtler von 1989 waren mutige Menschen. Die Mehrheit waren sie nicht.
Obwohl der Kampf um die Stasi-Akten einen Sieg ostdeutscher Bürgerrechtler gegen gesamtdeutsche Schlussstrichbefürworter darstellte und auch die Existenz der Gauck-Behörde nur ostdeutschen Aufarbeitern zu verdanken war, wird die Aufarbeitung einschließlich der Stasi-Überprüfung im Osten weithin als westdeutsche Idee gesehen. Das kommt daher, dass die Eliten im Osten - egal welche – prinzipiell als westdeutsche gelten. Und wenn es doch mal ein Ostler in irgendeine maßgebliche Position geschafft hat, gilt er vielen Ostlern als irrelevante Ausnahme - oder gar als „Volksverräter".
Die Deutungseliten besitzen ganz überwiegend einen anderen Sozialisationshintergrund als jene Menschen, denen sie die Vergangenheit erklären sollen. Das trägt dazu bei, Abwertung und fehlende Anerkennung des eigenen Lebens zu beklagen, und führt zu Wut. Wer aber klärt die Aufarbeiter über die „anderen" auf? Sind sie die allwissenden Erzähler?
Die Irritationen im Osten begannen nicht erst, als Westdeutsche kamen und beim „Aufbau Ost" mithalfen. Schon Bürgerrechtsgruppen 1989 waren von mutigen Menschen gegründet worden, die aufgrund ihrer beruflichen Stellung in der DDR (Kirche) oder ihres Eintretens für Menschenrechte vor 1989 (Opposition) zu gesellschaftlichen Randgruppen zählten. Nie hat jemand jene gezählt, die 1989 nicht mitmachten. Es war die Mehrheit. Bei den Wahlen am 18. März 1990 gewannen jene, die die einfachsten Lösungen versprachen. Heute nennt man das Populismus.
In der Ostalgie-Welle erzählte Kati Witt dumme Geschichten, für die sie sich später schämte
Als die DDR-Vergangenheit, wie sie sich in den Akten darstellte, ab 1990 öffentlich erzählt wurde, staunten die meisten Ostler. Vieles sei ihnen neu, hörte man immer wieder. Das war oft schwer zu glauben. Dahinter verbarg sich aber etwas anderes: Diese Geschichte von Leid, Opfern, Unterdrückung und Widerstand erreichte die Gesellschaft nicht, es war nicht ihre Geschichte, noch schlimmer: Es wurde nicht ihre Geschichte.
Als Reaktion auf die unverstandene Vergangenheit gab es die Ostalgie-Welle. Kati Witt erzählte, ein aktuelles Foto zeigte sie lachend im FDJ-Hemd, dumme Geschichten, für die sie sich heute schämt. Sie hat dazugelernt. Die Aufarbeiter aber hatten nicht verstanden, dass sie an der Gesellschaft vorbei erzählten. Immer wenn ihnen die Gegenerzählung nicht passte, vermuteten sie alte Seilschaften (die es auch gab) und ewig Gestrige (die es zuhauf gab) dahinter. Die Ostalgie-Wellen waren nichts anderes als die Landserschmonzetten in der alten Bundesrepublik.
Historiker verfolgen nicht die wissenschaftliche Aufgabe, Bilder zu entwerfen, in denen sich der Einzelne wiederfindet. Aufarbeitung aber will Identifikationsangebote unterbreiten, um die Ostdeutschen in die bundesdeutsche Gesellschaft zu integrieren. Das hat nicht ganz geklappt - bis jetzt. Fast die Hälfte der Ostdeutschen kann sich aktuell vorstellen, die rassistische AfD zu wählen; und fast die Hälfte fühlt sich als Deutsche zweiter Klasse. So viel Kollektivismus im Osten gab es bisher noch nie.
Das liegt natürlich nicht nur daran, dass die Aufarbeitung an ihren Ansprüchen scheiterte. In Ostdeutschland hat es nach 1933 fast sechzig Jahre lang nicht nur keine Demokratie, sondern auch keine Zivilgesellschaft gegeben. Der sozial-ökonomische Transformationsprozess war in Ostdeutschland kulturell und mental – nicht sozial! - so schmerzvoll, einschneidend, umfassend und fast die gesamte Bevölkerung erfassend wie nirgends sonst in Deutschland. Die Gesellschaft kam nicht zur Ruhe - und dabei musste auch noch fast jeder und jede sich fragen lassen: „Und was hast du bis 1989 getan?"
Ist die Aufarbeitung noch zu retten? Ja, natürlich! Aber die Causa Knabe sollte uns fragen lassen, ob es nicht doch mehr Zusammenhänge zwischen einseitigen Geschichtsbildern, fehlenden Eliten aus der eigenen Region, sozialen Ungerechtigkeiten und einer gesichtslosen Menge gibt, die Menschen im Mittelmeer „absaufen" „anderen" bereit ist und die ihren Hass in sozialen Medien wie auf Marktplätzen unverblümt zur Schau trägt und dabei keinerlei Berührungsängste mit extremistischem Gedankengut hat. Victor Klemperer sprach in seiner „LTI" davon, dass Sprache wie winzige Arsendosen töten könne. Der Hass auf diskriminierungsfreie Sprache ist eine Arsenbombe.
Aufarbeitung muss den Menschen gerecht werden, nicht den Aufarbeitern. Die DDR-Aufarbeitung sollte nun, fast dreißig Jahre nach dem Mauerfall, beginnen, die ganze Palette der DDR-Gesellschaft und die Transformationsgeschichte miteinander verknüpft zu erzählen. In dieser Aufarbeitung müssen alle Erfahrungsräume Platz finden. Das Leben vor und nach 1989 ist bei den meisten viel stärker miteinander verknüpft als historische Epochenzäsuren vorgeben.
Bundesdeutsche und DDR-Geschichte gehören nun einmal zusammen
Wenn wir es schaffen, ostdeutsche Geschichte als einen Fluss im Strom des 20. Jahrhunderts zu erzählen, dann sind wir nicht mehr weit entfernt von der gesamtdeutschen Geschichte. Bundesdeutsche und DDR-Geschichte gehören nun einmal zusammen. Nicht als platte Kontrastgeschichte, sondern als eine miteinander verwobene Geschichte sollte sie erzählt werden, und die DDR eben auch als eine Gesellschaftsgeschichte in der Parteidiktatur, in der viel mehr möglich war, als nur „Täter" oder „Opfer" zu sein. Die meisten waren weder das eine noch das andere, viele aber beides.
Voraussetzung für eine solche Neuausrichtung wäre wahrscheinlich, dass an den Schaltstellen der Aufarbeitungsmacht, die sich so verdient gemacht haben, all jene Platz machen für jene Jüngeren, die in all diese Auseinandersetzungen der letzten Jahrzehnte nicht verstrickt waren und die Aufarbeitung und Wissenschaft endlich zusammenbringen können, ohne sich des Verdachts auszusetzen, irgendetwas verharmlosen zu wollen. Die Gedenkstätte Hohenschönhausen könnte eine echte Vorreiterrolle übernehmen. Die Zukunft der DDR-Geschichte ist offen.