wir erinnerten und feierten den Tag der ersten Stasibesetzung
Sonntag 4. Dezember 2022 | 18:00 Uhr | an der Mauer vor und dann in der Gedenk- und Bildungsstätte Andreasstraße Erfurt (Nordseite Domplatz)
Am 4. Dezember 1989 haben wir in Erfurt zum ersten Mal eine Geheimdienstzentrale friedlich besetzt. Damit begann die Auflösung der STASI und es war der Beginn der Aufarbeitung der SED-Diktatur. Das wollen wir feiern.
Wir begannen wie gewohnt 18:00 Uhr an der Mauer am Eingang vor der Gedenk- und Bildungsstätte Andreasstraße. Die Ansprache hielt Matthias Sengewald.
Im Anschluss luden wir ein zu einem Podiumsgespräch mit
- Frau Dr. Anke Giesen, Vorstandsmitglied von MEMORIAL International (in Russland zwangsliquidiert) und MEMORIAL Deutschland e. V.
Die russische Menschenrechts- und Aufarbeitungsorganisation MEMORIAL hat in diesem Jahr zusammen mit dem Rechtsanwalt Ales Bjaljazki (Belarus) und dem "Zentrum für bürgerliche Freiheiten" (Ukraine) den Friedensnobelpreis erhalten. Die Organisation ist Ende 2021 nach immer mehr zunehmenden Drangsalierungen in Russland verboten worden. Gegründet wurde die Organisation 1986, kurz vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Eines der bekanntesten Gründungsmitglieder war der Friedensnobelpreisträger Andrei Sacharow. - Frau Julia Landau von der Gedenkstätte Buchenwald/Speziallager 2.
Sie wird über die Aufarbeitung von FSB/KGB berichten, auch mit Blick auf des Speziallager 2 in Buchenwald, dass nach der Befreiung von Buchenwald dort bis 1951 betrieben wurde. Derzeit sind in Buchenwald Mitarbeiter*innen von MEMORIAL tätig, die aus Russland geflüchtet sind. - Herr Prof. Dr. Jörg Ganzenmüller, Vorstandsvorsitzender der Stiftung Ettersberg als fachkundiger Moderator.
Die Stiftung dient der wissenschaftlichen Forschung zu Entstehung, Erscheinungsformen und Überwindung von Diktaturen in Europa, insbesondere der SED-Diktatur. Seit 2017 ist er zudem Inhaber der Professur für Europäischen Diktaturenvergleich an der Universität Jena.
Gesprächsthema war die Aufarbeitung der Rolle des sowjetischen Geheimdienstes KGB und seiner Nachfolgeorganisation FSB in Russland und dena nderen Sowjetrepubliken. Recht bald wurde natürlich auch über die aktuelle Situation angesichts des Krieges Russlands gegen die Ukraine debattiert. Dabei konnten viele Fragen zur Opposition und der Haltung der Bevölkerung in Russland und den anderen ehemaligen Sowjetrepubliken beantwortet werden. Wir danken allen Gesprächspartner:innen für einen sehr inhaltsreichen und aufklärenden Abend!
Die Veranstaltung wurde in Kooperation mit der Stiftung Ettersberg und der Heinrich-Böll-Stiftung durchgeführt.
Rede am 4. 12. 2022 zum Gedenken an die erste Stasibesetzung
Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Freunde.
Für viele von euch und ihnen, die jetzt hier sind, ist der 4. Dezember 1989 ein ganz besonderer Tag in den vielen besonderen Tagen der Friedlichen Revolution. Jede und jeder kann da seine eigene Geschichte erzählen.
Am 4. Dezember 1989 früh klingelte es bei mir zuhause und ich wurde aufgefordert: „Wir müssen die Stasi besetzen, du musst mitkommen“. Gleich danach bin ich zur Andreasstraße. Inzwischen waren da viele Menschen, die vor dem Haupteingang in der Andreasstraße standen.
Als ich das sah, musste ich an den Tag der ersten großen Demonstration in Erfurt am 26. Oktober denken. Geschätzt 40.000 waren nach den Friedensgebeten zum Domplatz gekommen, es war nichts vorbereitet, aber die spontan gerufenen Losungen, die sich über den ganzen Platz verbreiteten, ehe sie vom nächsten Ruf abgelöst wurden, waren deutliche Ansage an die Machthaber. Danach zog ein Teil der Demonstranten noch über den Juri-Gagarin-Ring und weiter. Ich war inzwischen zuhause gewesen, und nun kam mir in der Andreasstraße der Zug entgegen. Es waren vor allem junge Leute, von denen ich viele kannte, deshalb ging ich mit. In Höhe des Haupteinganges der Stasi machte der Zug Halt, es wurde für unser damaliges Gefühl brenzlig. Wie würde die Stasi reagieren?
Heute wissen wir, dass es detaillierte Pläne für eine Abwehr gab mit festgelegten Positionen von Maschinengewehren, die die ganze Straße abdeckten. Wir, die wir uns aus den Oppositionsgruppen kannten, rannten zum Haupteingang, stellten uns mit unseren Kerzen davor und schrieen, so laut wir konnten „Keine Gewalt!“. Es blieb ruhig, und nach einer Weile zog der Zug weiter und verlief sich dann.
Aber am 4.Dezember 89, einen guten Monat später, war es eine ganz andere Stimmung. Die Angst vor der Stasi war der Erkenntnis gewichen, dass dieser Unterdrückungsapparat ein Ende haben muss. Die Selbstbefreiung war im vollen Gange.
Sie hatten eine Abordnung von 10 Leuten in das Stasigebäude eingelassen, in der Hoffnung damit die Wogen glätten zu können. Inzwischen hatten sich gut 500 Leute versammelt und forderten ebenfalls Einlass. Aber nichts tat sich. Und so beschlossen wir, es über den Hintereingang, heute Bechtheimer Straße, zu versuchen. Die beiden Wachhabenden gaben bald nach und öffneten.
Auch hier wissen wir heute mehr: Einen der Wachhabenden haben wir interviewt. Er schilderte, wie sie trotz mehrfacher Anrufe beim Vorgesetzen keine Antwort erhielten, was sie tun sollten. Dann hat einer heimlich ihre Pistolen weggeschafft, aus Angst, schießen zu müssen. Und dann haben sie den Schlagbaum geöffnet.
Nun waren wir drin, öffneten den Haupteingang, fanden den Heizungsofen und die Verkollerungsanlage, fanden halb zerrissene Akten, die Zeugnisse ihrer Spitzeltätigkeit gegen das eigene Volk, die sie noch schnell vernichten wollten. Noch am selben Tag wurden Schränke und Räume versiegelt, die Bürgerwache eingerichtet, das Bürgerkomitee gegründet, noch am selben Tag wurden die Bezirksdienststellen in Leipzig, Rostock und Suhl sowie mehrere Kreisdienststellen, auch die Erfurter, besetzt, an den folgenden Tagen die anderen.
Die Aufarbeitung der zweiten deutschen Diktatur im 20. Jahrhundert begann hier, am 4. Dezember 1989. Es folgte ein zähes Ringen um die Auflösung der Stasi, die Erhaltung der Akten, um die Einsichtnahme in die Akten.
Aber mit dem Ende 1991 beschlossenen Stasi-Unterlagen-Gesetz war das endgültig erreicht. Die persönliche Einsichtnahmen, die wissenschaftliche Aufarbeitung und auch journalistische Berichterstattung sind damit unter Wahrung der Persönlichkeitsrechte gesetzlich geregelt. Ebenso sind Ansprüche auf Rehabilitation und Entschädigung, auch wenn noch Nachbesserungen nötig sind, gesetzlich festgehalten. Diese Gesetze sind beispielgebend auch für andere Länder geworden.
Denn die Aufarbeitung ist eine der Voraussetzungen für den demokratischen Neuanfang. Demokratie setzt die Freiheit die Bereitschaft voraus, Verantwortung zu übernehmen. Für das was war, um daraus zu lernen für Gegenwart und Zukunft.
Erst viel später, als ich mich an der Arbeit der 1999 gegründeten Gesellschaft für Zeitgeschichte beteiligt habe, habe ich begriffen, dass das ein Erfolg von weltgeschichtlicher Bedeutung war.
Was ist mir dabei wichtig geworden? Was trägt das für heute aus?
Es geht darum, die inneren Mechanismen der Diktatur zu erkennen, dessen wichtigstes Mittel die Angst ist, das Wirken der Geheimdienste in der Diktatur. Denen letztlich jedes Mittel recht ist, um ihre Ziele zu erreichen und gleichzeitig ihre Absichten zu verschleiern.
Es geht auch darum zu erkennen, wie die Menschen in Diktaturen zwischen Anpassung und Aufbegehren agieren, wie sich Opposition und Widerstand darin bildet, in Formen, die erst bei näherem Hinsehen zu erkennen sind. Wie sie mit Witz und Findigkeit staatliche Auflagen umgehen.
Und es geht darum, die Folgen der Diktatur für die Menschen wahrzunehmen, es geht darum Menschenrechtsverletzungen öffentlich zu machen.
Denn Demokratie und Menschenrechte, Freiheit und Verantwortung gehören untrennbar zusammen und wirken nur miteinander.
Wir brauchen diesen klaren Blick auf unsere Welt.
Er hilft, schärfer die Absichten des KGB-Offiziers Wladimir Putin und seiner Regierung zu erkennen.
Er hilft zu durchschauen, wenn Vertreter einer neuen Partei die Nazi-Diktatur einen Vogelschiss der Geschichte nennen und mit einer „Wende 2.0“ die politischen Verhältnisse ändern wollen.
Er hilft vor einer naiven Verklärung der Verhältnisse in der DDR, und vor der Erwartung, “die da oben müssen es machen“.
Er hilft, zu sehen, dass wir keineswegs in einer „neuen Diktatur“ leben und „wie in der DDR“ „nicht sagen können, was wir denken“.
Er hilft, solidarisch zu sein mit den um Freiheit kämpfenden Menschen im Iran, in Russland und Belarus, und auch mit den Opfern von Krieg in der Ukraine und anderswo in der Welt.
Öffnen wir unser Herz, unseren Verstand und unseren Intellekt für all die Menschen, die heute und ganz aktuell unter Diktaturen, Unterdrückung, Krieg, Gewalt und Fremdbestimmung leiden.
Unsere jetzt gleich folgende Podiumsdiskussion nimmt dieses Thema auf, ich freu mich darauf.
Ich danke allen fürs Zuhören.
Fotos: Susanne Kessler, Matthias Sengewald