Christian Dietrich, von 2013-2018  Landesbeauftragter des Freistaats Thüringen zur Aufarbeitung der SED-Diktatur 

Liebe Demokraten und Freunde der Freiheit, liebe Erfurter,

in Leipzig wird das örtliche Revolutionsdatum jedes Jahr am 9. Oktober von zig Tausenden gefeiert. Ähnliches wünschte ich der Stadt Erfurt für den 4. Dezember.
9. Oktober, 9. November, 4. Dezember Leipzig, Berlin und Erfurt sind die Orte der Geburt unserer politischen Freiheit. Hier in Erfurt vermisse ich das Engagement der Stadt und seiner Repräsentanten.

In diesem Jahr feiern wir ein Vierteljahrhundert ohne kommunistische Diktatur in Ostdeutschland und Ostmitteleuropa. Dafür hat sich der Begriff friedliche Revolution eingebürgert. Revolution, denn Diktaturen enden nicht einfach.

Der Aufbruch in die Freiheit bedarf vieler:
Menschen, die in guter Kooperation gesellschaftliche Räume besetzen, die ihnen mit Gewalt verwehrt wurden. Revolutionen ereignen sich, wenn Menschen ihrer Sehnsucht Raum geben und den Mut fassen, etwas zu tun und zu wagen, wozu sie lange nicht bereit waren.

Roland Jahn hat in seinem Buch „Wir Angepassten“ diesem Mut gegen die alltägliche Erpressung ein Denkmal gesetzt. Aus der Perspektive der Demokratie kann man staunen, wie Wenige letztlich einen Unrechtsstaat zum Kippen bringen können.

Nur Wenige im Sinne einer Volksabstimmung, denn damit begann alles. Die Abstimmung mit den Füßen in Form der Flucht über die Botschaften und die zerschnittenen Zäune - und die Abstimmung mit den Füßen auf den Plätzen vor den Kirchen und in den Zentren der Städte.

Anfang Oktober 1989 wich der SED-Gewaltapparat vor den Demonstranten zurück. Das machte Mut. Ein Monat später wurde der Eiserne Vorhang auch in Deutschland eingedrückt. Die SED musste realisieren – ihre Macht ist begrenzt. Noch einen Monat später wurde der Kernsatz der DDR-Verfassung – das Machtmonopol der SED – gestrichen und der Erfurter SED-Chef inhaftiert.
Der Weg zur Übernahme der Macht durch frei gewählte Bürger des Landes war eröffnet. Doch so einfach war das nicht.

In der Dynamik der friedlichen Revolution wird das Brechen der Macht der SED und die daraufhin gestartete Vorbereitung der Wahlen zusammengesehen. Dazu gehört die unglaublich dynamische Zwischenzeit der Untersuchungsausschüsse und der Runden Tische.
Doch was wäre dies ohne die Entmachtung der Stasi und der Sicherung der Beweismaterialien?

Mit Beginn der friedlichen Proteste war die Entmachtung der Stasi ein Thema.
Wir riefen genau ein Vierteljahr vor der Erfurter Stasierstürmung in Leipzig auf dem Nikolaikirchhof „Stasi raus!“ Ein Ruf, der mit Hilfe der westlichen Fernsehstationen zu der Losung „Für ein offenes Land mit Freien Menschen“ durch das Land erscholl. Innerhalb weniger Wochen wurde aus der Bürgerrechtsbewegung eine Bürgerbewegung. Schon im Oktober marschierten die Demonstranten an mehr als 80 Orten Ostdeutschlands zu den Stasizentralen. Genau einen Monat vor dem Erfurter Sturm auf die Stasi zählte die SED 14 solcher Demonstrationen an einem Tag in Ostdeutschland.
In jenen Tagen gab der Stasi-Minister Befehle zur Spurenvertilgung heraus. Kurz nach dem Fall der Mauer, am 13. November trat er vor die DDR-Volkskammer und sagte: "Ich liebe - Ich liebe doch alle - alle Menschen …" Der Rest ging im Gelächter der Blockflöten und Genossen unter.

Heute vor 25 Jahren verabredeten sich Menschen mit hohem Selbstbewusstsein und Mut, der Stasi das Handwerk zu legen.
Die Stiftung Ettersberg hat zum heutigen Tag eine Broschüre herausgegeben unter dem Titel „Es lag etwas in der Luft….“
Das ist konkret zu verstehen, der Rauch der verbrannten Akten hat den „Frauen für Veränderung“, Theologiestudenten, Vertretern des Neuen Forums und anderen klar gemacht, dass Gefahr im Verzug ist. Für die Beweissicherung musste schnell gehandelt werden.

„Es lag etwas in der Luft….“ ist auch eine Metapher dafür, dass die Zeit reif war, auch die SED-Gewalt zu brechen. Heute vor 25 Jahren bekam die friedliche Revolution einen ganz besonderen nachhaltigen Charakter. Die Sicherung der Akten für die Aufklärung der SED-Herrschaft und die Aufarbeitung. Das, was hier in Erfurt geschah, war wie ein Zündfunke. Wie ein Lauffeuer folgten dem Erfurter Beispiel Bürger in Suhl, Jena, Rudolstadt, Saalfeld, Gotha, Nordhausen und Leipzig noch am selben Tag und bald im ganzen Land.

Der Sturm auf die Stasi wurde zum point of no return der friedlichen Revolution. Oder vielleicht noch genauer – mit dem Sturm auf die Stasi wurde aus der friedlichen Protestbewegung die friedliche Revolution. Dass das ohne Blutvergießen möglich war, haben einige noch in der Nacht zum 5. Dezember nicht glauben können. Der Stasi-Schießbefehl wurde ja auch erst am 5. Dezember aufgehoben.

Um so größer meine Hochachtung für alle, die sich am Stasisturm beteiligten.
Auch wenn der so allmächtige Sicherheitsapparat noch versuchte, weiter zu arbeiten und hinter dem Rücken oder gar mit Unterstützung der spontan gebildeten Bürgerkomitees Akten und Datenträger vernichtete, gab es von da ab die Stasi so nicht mehr.

Heute, 25 Jahre später müssen wir feststellen, die Aufarbeitung der SED-Verbrechen auch mit der Hilfe dieser Akten wird noch lange währen.
Auch dafür steht Erfurt, 4. Dezember 1989:
Nicht Amnesie - sondern Entzauberung der SED-Diktatur - Aufklärung,
nicht Schwamm drüber, sondern den Opfern den Zugang zur Akte ermöglichen und Entwicklung einer Kultur der Würdigung derer, die von der SED verfolgten wurden.

Schon früh gab es in Erfurt ein Bewusstsein für die Bedeutung dieser Etappe der Revolution.
Ort und Tag wurden hier am Haupteingang markiert mit dem Wort: „Aus den Fesseln der Angst befreit“.

Inzwischen ist der Ort des Terrors und der Befreiung zu einer Gedenk- und Bildungsstätte geworden. In den letzten beiden Jahren konnten wir die Eröffnung des Baus und des Museums feiern. Heute können wir feststellen, die Auseinandersetzungen darum haben sich gelohnt. Kubus und die drei Etagen werden auch außerhalb von Thüringen und Deutschland hoch gelobt.

Doch neben solchen Leuchttürmen gibt es offensichtlich schwerwiegende Lücken in der Aufarbeitung der SED-Diktatur. Dies wird gerade in der Auseinandersetzung um die Thüringer Regierungsbildung und der rot-rot-grünen Koalition sichtbar.
Werner Schulz fragt: Wie kann „eine Partei, die 25 Jahre lang mit Häme und Kritik diejenigen bedacht haben, die die Erblasten der SED abgeräumt haben, den Ministerpräsidenten stellen“?
Andere wieder erwarten einen frischen Wind für die Aufarbeitung der SED-Diktatur und sogar Aufwind, für Menschen, die durch die SED-Diktatur beruflich behindert, gesundheitlich oder sozial geschädigt wurden.

Wir leben in einer offenen Gesellschaft mit freien Wahlen. Wir können und müssen diese Spannungen aushalten. Und die Aneignung der Geschichte mit Hilfe der vor 25 Jahren sichergestellten Beweismittel ist nicht mehr rückgängig zu machen. In diesem Sinne wünsche ich uns Mut zur Wahrheit und Engagement für die, deren Würde verletzt wurde.