Laudatio für die Gedenk- und Bildungsstätte Andreasstraße Erfurt

von Frau Dr. Ulrike Gilhaus, Leiterin LWL-Museumsamt für Westfalen, anlässlich der Verleihung des Museumspreises der Sparkassen-Kulturstiftung Hessen-Thüringen an die Gedenk- und Bildungsstätte Andreasstraße Erfurt am 1. Oktober 2021

- es gilt das gesprochene Wort - 

 

 

 

Sehr geehrter Herr Haupt,
Sehr geehrter Herr Prof. Ganzenmüller,
sehr geehrter, lieber Herr Dr. Voit,
liebes Museums-Team,
verehrte Festgäste,

Die Broschüre der Sparkassen-Kulturstiftung Hessen-Thüringen zur Preisverleihung

der zehnte Museumspreis der Sparkassen-Kulturstiftung Hessen-Thüringen ging im vergangenen Jahr verdient an die Gedenk- und Bildungsstätte Andreasstraße in Erfurt mit ihrer Dauerausstellung „Haft – Diktatur – Revolution. Thüringen 1949-89“ wie das einstimmige Votum der Jury eindrucksvoll belegt. Dazu gratulieren die Mitglieder der Jury dem Team um Dr. Jochen Voit sehr herzlich und beglückwünschen auch den Träger, die Stiftung Ettersberg, für die Sie, Herr Prof. Ganzenmüller heute bei uns sind, zu der begehrten Auszeichnung. Wir sprechen unseren Respekt und unsere Anerkennung für das Gesamtwerk Andreasstraße, für Konzeption, Umsetzung und tägliche Vermittlungsarbeit aus.

Im Mittelpunkt der Gedenkstätte steht die Erinnerung an Unterdrückung und Widerstand während der SED-Diktatur in Thüringen 1949–1989. Es ist hier auf vorbildliche Weise gelungen, die Geschichte von Unterdrückung, Gewalt und Widerstand in zwei Diktaturen auf deutschem Boden, ihre Gemeinsamkeiten und Kontinuitäten, aber auch Unterschiede und Brüche aufzuarbeiten. Mehr als 5.000 Menschen wurden hier in 40 Jahren wegen ihres Widerstandes oder politisch non-konformen Verhaltens inhaftiert. Im Mittelpunkt steht aber nicht das repressive System gegenüber widerständigen Menschen, sondern die Friedliche Revolution gegen eben diese Staatsmacht, die hier am 4. Dezember 1989 ihren Anfang mit der Besetzung der ersten Stasi-Zentrale in der DDR nahm. Den mutigen Frauen und Männern von 1989 ist die Ausstellung gewidmet. Das Museum wird ausgezeichnet, weil es ihm auf besondere Weise gelingt, einen bedeutsamen Teil der deutschen Geschichte mit musealen Mitteln einem breiten Publikum anschaulich und lebendig zu vermitteln und weil es mit dieser Arbeit bis weit in die aktuellen gesellschaftlichen Debatten hinein reicht. Die Gedenk- und Bildungsstätte Andreasstraße wird also auch für die beispielgebende gesellschaftliche Relevanz eines zeitgeschichtlichen Museums ausgezeichnet. 

Als die Jury am 10. September des letzten Jahres abends mit erheblicher Verspätung hier eintraf, hatten wir schon mehrere überzeugende Museen gesehen, wir standen also nicht mehr am Anfang. Die Menschen in der Jury waren in alphabetischer Reihenfolge Dorothée Coßmann, Geschäftsführerin der Sparkassen-Kultur-stiftung Rheinland, Gerhard Lenz, Museumsleiter und Geschäftsführer des Weltkulturerbes Erzbergwerk Rammelsberg in Goslar, Anja Schaluschke, Direktorin des Museums für Kommunikation Berlin und ich selbst als Leiterin des LWL-Museumsamtes für Westfalen in Münster sowie (als beratende Mitglieder) Dr. Birgit Kümmel, Vorsitzende des Hessischen Museumsverbandes, Dr. Thomas T. Müller, Präsident des Museumsverbandes Thüringen und schließlich Christina Reinsch, Geschäftsführerin des Hessischen Museumsverbandes. Der lange warme Tag hatte uns schon zugesetzt und auch Herrn Voit und seinem Team sah man die Spannung des langen Wartens an. Aber kaum, dass wir bei Erfrischungsgetränken im Kubus zu einem Vorgespräch saßen, war das alles verflogen. Wir haben vom ersten Moment die konzentrierte fachliche Einführung von Ihnen, Herr Voit, aufgesaugt. Von der ersten bis zur letzten Sekunde des Besuchs war bei Ihnen ein ausgeprägter, fast unbändiger Wille spürbar, die Ihnen wichtigen Botschaften bei der Jury zu platzieren und dafür zu kämpfen, dass wir genau dafür sensibilisiert werden. Vielleicht macht ihr pädagogisches Talent und diese tiefe Überzeugung für die Sinnhaftigkeit Ihrer Arbeit schon einen Gutteil Ihres Erfolges aus. Das war ebenso in der späteren Diskussion bei Kathrin Schwarz, Verantwortliche für Öffentlichkeitsarbeit, und anderen Personen, die uns begleiteten, spürbar. Sie sind, lieber Herr Voit, wirklich ein sehr guter Motivator, und nehmen Ihr ganzes Team mit. Der Besuch hat uns so beeindruckt, dass wir später relativ schnell eine Einigung und ein einstimmiges Votum für den Hauptpreis für die Gedenk- und Bildungsstätte Andreasstraße in Erfurt erzielten.

Seit 2002 verleiht die Sparkassen-Stiftung Hessen-Thüringen alle zwei Jahre in Zusammenarbeit mit dem Hessischen Museumsverband und dem Museumsverband Thüringen ihren Museumspreis. Ich selbst bin zum zweiten Mal dabei. Und ich begrüße, lieber Herr Haupt, sehr die Offenheit des Verfahrens durch die Kriterien der Sparkassen-Kulturstiftung Hessen-Thüringen als Ausloberin. Dadurch ist es möglich, eine ganz individuelle Würdigung auszusprechen und auf die Situation in den bereisten Museen einzugehen. Auch die Möglichkeit zu einer eigeninitiativen Bewerbung empfinde ich als Ausdruck von Chancengleichheit und demokratischen Strukturen in einem solchen Verfahren. Bewahren Sie sich diese Offenheit!

Ausgezeichnet wird die Umsetzung eines besonders gelungenen Konzeptes oder hervorragende praktische Arbeit. Der Preis wird verstanden als öffentliche Ermutigung zur Wahrnehmung des öffentlichen Auftrages von Museen. Zwar wurden 2008 bereits die Gedenkstätte Mittelbau-Dora und 2014 der Erinnerungsort „Topf und Söhne“ in Erfurt ausgezeichnet, doch insgesamt sind Gedenkstätten im Spektrum der preisgekrönten Museen in Deutschland immer noch unterrepräsentiert. Mit der Gedenk- und Bildungsstätte Andreasstraße wird nun erstmals eine Gedenkstätte zur DDR-Geschichte mit dem Museumspreis Hessen-Thüringen ausgezeichnet.

Was also macht das Beispielgebende in der Gedenk- und Bildungsstätte Andreasstraße aus? Sie hat sich ausdrücklich entschieden, „anders“ zu sein, dies ist ihr selbstformulierter Anspruch und dies ist auch wesentlich für die Begründung der Preiswürdigkeit der Jury gewesen. Von außen macht schon der Kubus mit seiner verspiegelten Comic-Fassade und den Zeichnungen von Simon Schwartz als Kontrapunkt zur kaiserzeitlichen Haftanstalt deutlich, dass hier etwas Ungewöhnliches gelungen ist, nämlich die erzählerische Verbindung von zwei vermeintlich unvereinbaren Polen: Unterdrückung und Befreiung, Schmerz und Triumph.

Konzeptionell haben wir es mit einem zeitgeschichtlichen Museum am authentischen Ort zu tun, einem Ort, der für Haft, Unterdrückung, Bespitzelung, Demütigung und Brechung, vor allem aber für die Kraft des Widerstandes gegen eben dieses System steht. Über fünf politische Systeme hinweg war die Andreasstraße seit 1879 ein Gefängnis, angliedert an ein Land- bzw. Bezirksgericht. Von Anfang an wurden hier Urteile wegen politischer Vergehen vollstreckt – auch durch Hinrichtungen. Sofort nach der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten kam es zu einer erheblichen Ausweitung der Inhaftierung von Regimegegnern und Menschen mit unerwünschtem Verhalten, darunter Zeugen Jehovas und Homosexuellen. Nach 1952 wurde das Gebäude als Untersuchungshaftanstalt gemeinsam von Polizei und dem Ministerium für Staatssicherheit als eigenständigem Untersuchungsorgan für politische Strafsachen genutzt, ein Alleinstellungsmerkmal in der DDR. Wir haben es also mit einem Ort der Kontinuität staatlicher Gewalt und Repression zu tun. Durch alle diese Merkmale ist die Andreasstraße viel mehr als „nur“ ein Ort des Gedenkens, vielmehr ist sie Denkmal, Überrest mit Sachzeugnissen, Archiv, Sammlung, Forschungszentrum, Museum und Bildungsort. Ich persönlich empfinde die Arbeitsweise in der Andreasstraße vielleicht auch deshalb persönlich so sympathisch, wertvoll und unterstützenswert, weil ich früher ein Industriemuseum in Dortmund geleitet habe, das ganz ähnliche Fundamente hat und ebenfalls dem Gebäudeensemble, den sachlichen Relikten und der Arbeit mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen so viel Wert beigemessen hat.

Die Geschichte wird in vier Abteilungen vermittelt und ist auf vier Ebenen verteilt. Der Anfang liegt im 2. OG, der ehemaligen Männer-Haftetage, dem größten Exponat der Ausstellung. Behutsam sind die Spuren aus mehr als 40 Jahren Haftgeschichte konserviert worden, um Verhörmethoden, Drohungen, Desorientierung, Isolation und Angst, aber auch Widerstand am authentischen Ort zu vermitteln. Eine Etage tiefer wird der gesellschaftliche und politische Alltag der DDR ausgebreitet und Kontextwissen über die SED-Diktatur vermittelt. Im Erdgeschoss geht es schließlich um die Friedliche Revolution und das Untergeschoss hat neben Sonderausstellungsräumen die Ausstellung zur Verfolgung und Unterdrückung durch das NS-Regime aufgenommen.

Überall verbinden sich authentischer Ort, inhaltliche Erzählung, niedrigschwellige Gestaltung, sensible Vermittlungsarbeit und gesellschaftliche Relevanz auf eine ideale und innovative Weise. Der authentische Ort wartet zunächst mit extrem starken Räumen auf. Relikte erinnern an alle Phasen der Nutzung, man sieht etwa Spuren der Klopfzeichen und der Versiegelung der Räume nach der Friedlichen Revolution. Behutsamen Restauratorinnen und Restauratoren ist hier viel zu verdanken. Niemals werde ich den Raum der Isolierhaft im Trakt des MfS vergessen, in dem ungezählte Schreie ungehört verhallten. Unvergessen sind mir auch die Fenster mit Glasbausteinen in den engen Zellen, durch die Gefangene selbst bei geöffnetem Fenster nicht einmal den Himmel sehen konnten. Nur stetes Grau… Durchschnittlich 100 Tage dauerte die Haft in diesen Räumen und niemand konnte sagen, wann es vorbei sein würde.

Hervorzuheben ist, dass anders als in einigen anderen Gedenkstätten zur DDR-Geschichte das Überwältigungsverbot, also das Gebot, Menschen nicht durch Sinneseindrücke oder andere Mittel zu einer (politisch) erwünschten Meinung manipulativ zu beeinflussen, absolut beachtet wird. Ausdrücklich wird in Führungen auf schockierende Situationen vorbereitet und aufgefordert, die eigenen Grenzen vorsichtig auszutesten. Das ist gerade im 2.OG wichtig.

Beispielgebend ist die gewählte Ebene der Darstellung. Sie ist an den Menschen orientiert, die es hundertausendfach betroffen hat und fokussiert deren Alltagserfahrungen. Sie zeigt Menschen, die angeeckt sind, unbequem waren und manchmal auch Querulanten waren und so in das Räderwerk des IfM geraten sind. Ganz „normale Menschen“, etwa mit Liebesgeschichten zu einem Westdeutschen, Menschen mit Solidarität zu politisch unliebsamen Künstlern, Menschen mit dem Wunsch nach einem freien, selbstbestimmten Leben, mit Ausreiseanträgen oder Fluchtversuchen. Sie zeigt keine harten Knast- und Diktaturerfahrungen wie Hohenschönhausen oder Roter Ochse, sondern eher die allumfassenden Eingriffe des Staates in das Leben von Millionen, die subtilen Repressionen, Drohungen und Einschüchterungen in Verhör und Knast, die ausreichten, um Menschen zu disziplinieren, „auf Kurs“ zu bringen oder sogar zu brechen. Das SED-Herrschaftssystem wird in seinen ganzen Schattierungen, seinen abgefeimten Methoden, seinem „weißen Terror“ gezeigt.

Tragend für die gewählte Ebene der Ansprache ist die multiperspektivische Erzählung. Dazu gehört, neben den natürlich überwiegenden Quellen und Aussagen der Opfer, auch die Perspektive der Täter und Täterinnen einzubeziehen, ohne die gebotene Parteilichkeit aufzugeben. Dennoch kann dadurch ein vollständigeres Bild der anderen Seite erreicht werden, fast eine 360-Grad-Perspektive. Medienstationen sind Bindeglieder zwischen Ort und Erlebniszeugen.

Während in fast allen Gedenkstätten – etwa im hier gut bekannten Erinnerungsort „Topf und Söhne“ – die eher nüchterne Dokumentation mit dem vorrangigen Einsatz von Text- und Bildquellen überwiegt, ist die Gedenk- und Bildungsstätte Andreasstraße ein Museum für Zeitgeschichte, das uns die jüngste Vergangenheit mit Mitteln der Dreidimensionalität erleben lässt. Das Exponieren und Arrangieren der Dinge im Raum, das Inszenieren und Kontextualisieren schafft Stimmungen, löst Zustimmung, Fragen oder Widerspruch aus. Vor allem im 1.OG werden die Grautöne der Infrastruktur und die gedeckten Farben des authentischen Ortes mit starken Farben kontrastiert, zum Beispiel mit Orange, der Farbe, die auch in der Revolution in der Ukraine als Signal und Marker diente. Vielleicht ist das ein Zufall. Hier begegnet uns das Mittel des Comics erneut, mit deren Hilfe fiktionale Erzählungen gelingen und die besonders Jugendliche als Hauptzielgruppe ansprechen. Sie fußen nicht auf Phantasieerzählungen, sondern es wurden Prototypen aus zahlreichen realen Dokumenten entwickelt, natürlich abstrahierend und vergröbernd, dadurch aber plastischer und fokussiert auf zentrale Probleme. Immer geht es um eine zentrale Entscheidung im Leben, die eine Person aktiv und tragischerweise auch meist im vollen Bewusstsein der Konsequenzen treffen muss und die das weitere Leben meist absehbar beeinflussen wird. Interaktiv können Gäste diese Entscheidung und ihre Konsequenzen nachvollziehen. Das Ergebnis spricht besonders Menschen an, die mit der DDR nicht vertraut sind. Die Beispiele orientieren sich bis auf eine Ausnahme an dokumentierten Erlebnissen von Personen der Zeitgeschichte.

Diese Gestaltung setzt sich außen fort. Der Kubus ist das prägnante, adressbildende architektonische Objekt des Triumpfs über die SED-Diktatur mit zahlreichen Symbolen der Friedlichen Revolution von 1989 in Thüringen. Ausdrücklich geht es nicht um die sogenannte Wende, die terminologisch eine westdeutsche Sicht aufgreift und das außerordentliche Geschehen minimiert und missversteht. Denn hier in Erfurt fand die erste Besetzung einer der 17 Stasi-Zentralen statt, viel früher als in Leipzig, Dresden oder Berlin. Anders als von westdeutschen Medien wahrgenommen, setzte vielmehr Erfurt den Meilenstein. Thüringen war einer der Hot Spots der Friedlichen Revolution. Und so ist der Kubus anstelle der ursprünglich angedachten Zitate von Zeitzeugen mit einer Vielzahl von Motiven des Landes Thüringen bedruckt, gezeichnet von Simon Schwartz nach originalen zeitgenössischen Fotografien. Der Kubus ist schwarz, er sollte aber kein Grab sein. Zusammen mit der Agentur Freibeuter haben sich alle Beteiligten an die Darstellung im Stil des überdimensionalen Comics oder Wimmelbildes herangetastet, abgestimmt mit Opferverbänden, die daran partizipativ mitgewirkt haben. Künstler Simon Schwartz, als Kleinkind aus Erfurt ausgewandert, hat sich auf diese Idee eingelassen, und neue ikonografische Elemente eingearbeitet. Der Kubus ist das Denkmal und Mahnmal an die Friedliche Revolution und ein wirkliches Gemeinschaftswerk, Symbol der kollektiven Überwindung der SED-Herrschaft!

Das optimistische Ende der Schau zu dieser Zäsur im EG ist aus Sicht der Opfer didaktisch wichtig. Sie befreiten sich gemeinsam 1989 aus ihrer Opferrolle und wurden zu Akteuren, diese Erzählung muss genau so stehen, hat mir Herr Voit auf meine kritische Frage geantwortet. Demgegenüber sind die strukturellen Elemente, die für den Zusammenbruch des Regimes tragend waren, untergeordnet. Sie kommen auch in der Erzählung im 1. OG über Mangelwirtschaft, Devisenbeschaffung oder die Rolle Gorbatschows vor. Aber am Ende waren es nicht die Strukturen, sondern die Menschen, die durch kollektives Aufbegehren den Ausschlag gaben. An dieser Leistung der Zeitakteure ändern auch die aktuellen rechten Entwicklungen nichts.

Die intensive und partizipative Arbeit mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen ist erneut bespielgebend und vorbildlich. Ihre Interviews bilden die Grundlage der Ausstellung und sind neben dem Gebäude das wichtigste Exponat. Mit allen Opferverbänden und Initiativen der Friedlichen Revolution gab es einen engen Schulterschluss. Angefangen hat dies in der Zeit, als das Gebäude zu verfallen drohte und die Gedenkstätte nicht kam, sogar der Abriss stand zur Diskussion. Bürgerschaftliches Engagement verhinderte dies. So liegt im partizipativen Ansatz eine große Glaubwürdigkeit der Andreasstraße. Er unterstreicht und wertschätzt die politische Kraft der Bürgerinnen und Bürger in Erfurt auch in dieser zweiten Phase der Rettung dieses Ortes. Der Beteiligungsprozess verlangte Sensibilität und Umsicht in einer aufgeladenen Situation. Denn die Akteure hatten 2010/11 sehr unterschiedliche Zielvorstellungen über die gewünschte Gedenkstätte, und es verlangte tragfähige Kompromisse ohne Verwässerung und Nivellierung der Erlebnisse und es verlangte, neue Verletzungen und Retraumatisierungen zu vermeiden. Dass alles das gelungen ist, ist eigentlich ein kleines Wunder. Und es ist Ihnen allen miteinander gelungen!

Liebe Festgäste, was wünsche ich der Andreasstraße für ihre Weiterentwicklung? In westdeutschen Gedenkstätten, von denen ich in Westfalen mit meinem Team einige begleite, geht es immer stärker um die Weiterentwicklung über die NS-Geschichte hinaus. Das ist für manche Initiativen und Personen schwer zu akzeptieren, aber die Weiterentwicklung geht hier in Richtung eines zeitgeschichtlichen Museums, auch deutlich nach 1945. Ähnlich meine ich, müsste auch in der Andreasstraße bei einer Ausbaustufe – vielleicht in zehn Jahren – die Zeit nach 1989 in den Blick genommen werden, nicht nur wie heute mit Sonderausstellungen oder Veranstaltungen, sondern auch in einem eigenen neuen Raum. Das würde die Leistung der Akteure der Friedlichen Revolution nicht schmälern, aber wir können dort nicht stehenbleiben, wenn das Museum nicht „eingefroren“ werden soll. Zu fragen wäre dann nach enttäuschten Erwartungen durch das politische System der Bundesrepublik Deutschland und seine Möglichkeiten. Denn 1989 gab es ja eine zunächst sehr offene Zukunft, gewissermaßen unbegrenzte Möglichkeiten. Diese Zukunftsoffenheit, die ja auch ein Stachel sein könnte, müsste auf einer Ebene der staatlichen Rahmensetzung, vielleicht auch korrespondierend mit der Alltagsebene noch stärker herausgearbeitet werden, um daraus abgeleitet einen Möglichkeitsraum für eine politische Debatte zu schaffen und Brücken in die Gegenwart zu schlagen, gerade wenn wir an die aktuellen Wahlergebnisse hier in Ostdeutschland denken. Es scheint so einen Raum zu brauchen.

Meine Damen und Herren, die Gedenk- und Bildungsstätte Andreasstraße in Erfurt ist ein eindrücklicher Ort mit einer bemerkenswerten Ausstellung und Vermittlung, die in vielfältiger Weise einen wichtigen Beitrag zu aktuellen Debatten zu leisten vermag!! Sie steht gegen das Vergessen und für eine Anstiftung zum Hinsehen und entschlossenen Handeln für Freiheit, Menschenwürde und Demokratie. Sie erhält zu Recht den Museumspreis der Sparkassen-Kulturstiftung Hessen-Thüringen. Ich gratuliere im Namen der Jury nochmals allen, die an diesem Projekt in welcher Weise auch immer einen Anteil hatten und aktuell Fürsorge für sie tragen. Hüten und pflegen Sie diesen Schatz! Herzlichen Glückwunsch Andreasstraße in Erfurt!

Ihnen allen danke ich für Ihre Aufmerksamkeit und wünsche uns allen zum bevorstehenden Tag der Deutschen Einheit, dass wir uns an ihm mit Dank an die Männer und Frauen erinnern, die unsere Wiedervereinigung mutig angestoßen haben, auch hier in Erfurt!