Lothar Rochau: Marathon mit Mauern.

Rezension

Lothar Rochau: Marathon mit Mauern. Mein deutsch-deutsches Leben, Mitteldeutscher Verlag, Halle 2021

von Joachim Goertz, Berlin

 

Beinahe hätten wir uns begegnen können, 1977 in Halle-Neustadt. Lothar Rochau hat am 1. Oktober 1977 dort seine erste Arbeitsstelle als Diakon angetreten, nachdem er seine Ausbildung in Neinstedt und Eisenach abgeschlossen hatte. Ich hatte im Sommer 1976 mein Abitur am kirchlichen Proseminar in Naumburg an der Saale gemacht und sollte noch ein Gemeindepraktikum machen, bevor ich Theologie am dortigen Katechetischen Oberseminar studieren konnte. Halle- Neustadt war schon vereinbart, als meine Thüringer Heimatkirche intervenierte und verlangte, statt dessen in Thüringen das Praktikum zu absolvieren. So habe ich von Lothar Rochau erst erfahren, als er Ende der Siebziger, Anfang der Achtziger zunächst in kirchlichen kritischen Kreisen als engagierter Jugenddiakon bekannt und später dann aus dem kirchlichen Dienst entlassen wurde, damit der Verhaftung preisgegeben, sich dann quasi zwangsläufig im Westen wiederfand. Er gehörte zu den wenigen ausgesiedelten Bürgerrechtlern, die sich nicht in Westberlin verwurzeln wollten. Er gehört auch zu den wenigen, die nach der Freiheitsrevolution von 1989 wieder in den Osten zurückkehrten, um dort am Aufbau demokratischer Strukturen und Gesinnung mitzuwirken.

Nun also legt er seine Autobiographie vor, basierend auf ausführlichen Interviews mit Klaus Pankow und unterstützt bei der Überarbeitung der Rohfassung des Manuskriptes von Ines und Peter Godazgar. Im Unterschied zum Sachbuchbestseller von Annalena Baerbock, der ja eine ähnliche Redaktionsgeschichte hat, besticht dieses Buch durch eine Authentizität und Stringenz, die erahnen lässt, dass hier ein Zeitgenosse unterwegs ist, bei dem Worte und Tun weitgehend nicht diplomatischen Rücksichten geschuldet sind.

Rochau erzählt von seiner Kindheit im thüringischen Weißensee in den fünfziger und sechziger Jahren, aufgewachsen in einem Elternhaus, dass sich durch den Vater der sozialistischen Ideologie und Praxis verpflichtet fühlt, dem Sohn aber trotzdem die Taufe ermöglicht. Schon in dieser Zeit erfährt Rochau von den ungewöhnlichen Aktionen des zukünftigen Predigerschülers Oskar Brüsewitz. Aber erst die ernüchternde Erfahrung des Armeedienstes in Eggesin lassen ihn vom sozialistisch determinierten Weg abkommen und in ihm den Entschluss reifen, eine kirchlich-diakonische Biographie anzutreten. Er beginnt seine Ausbildung in Neinstedt und beendet sie am Johannes-Falck-Haus in Eisenach. Ihn prägen-wie viele seiner Generation- nicht nur die dramatischen Ereignisse um den flammenden Protest von Pfarrer Brüsewitz im August 1976 in Zeitz und die Ausbürgerung von Wolf Biermann im November 1976 und deren Folgen in Kirche und Gesellschaft.

Vor allem die Begegnungen mit Gleichgesinnten in der Bruderschaft von Neinstedt und Eisenach und dem legendären Pfarrer Walter Schilling aus Braunsdorf, und auch mit dem Pfarrehepaar Merker aus Weissensee lassen ihn seine geistige Unabhängigkeit gewinnen.

Voller Elan geht er nach „Ha-neu“, nach Halle-Neustadt, um dort christliche Gemeinde erlebbar zu machen. Dabei stößt er bei unzählig vielen Jugendlichen auf Resonanz, findet viele Mitstreiter, aber auch unter den Pfarrern und Gemeindeverantwortlichen vor Ort auf manche Vorbehalte. „Kirche im Sozialismus“- der Streit um die Deutung dieser Formel wird auch in der sozialistischen Vorzeigestadt ausgetragen. Steht am Anfang Superintendent Hartmann noch hinter den Aktivitäten von Rochau, den zahlreichen spektakulären Workshops, den Demonstrationen, gelingt es den staatlichen Organen im Zusammenwirken mit Stasi-Agenten in kirchlichen Diensten, wie dem Oberkirchenrat Offizier im besonderen Einsatz (OibE), Detlef Hammer, und dem Rechtsanwalt und Stasi-IM Wolfgang Schnur den Jugenddiakon Rochau innerhalb der Kirche zu isolieren und die Entlassung aus dem kirchlichen Dienst durch den Kreiskirchenrat Halle sanktionieren zu lassen.

Kein Einzelfall in den evangelischen Kirche der DDR- erinnert sei nur an Oskar Brüsewitz oder auch den Thüringer Pfarrer Reinhard Weidner, der im Kampf gegen eine Schweinemastanlage von seiner Kirche im Stich gelassen wurde. Bei Rochau kam noch hinzu, dass er politischer Häftling wurde, was sogar den „Spiegel“ und Helmut Schmidt erreichte, und er so von dort den schier unvermeidlichen Weg in den Westen gehen musste.

Die unsägliche Rolle, die dabei besonders der vorgeblich frömmelnde Wolfgang Schnur spielte, wird dabei eindrücklich bezeugt. Nach dem Zeugnis von Alexander Kobylinski in „Der verratene Verräter“ von 2015 ein weiterer Beleg für die Verwandlungsfähigkeit des Bösen.

Wer wollte vor dem politischen Prozess gegen Lothar Rochau beten? Hier ergibt sich allerdings ein Widerspruch zwischen der Darstellung von Rochau und der von Kobylinski, die in einer neuen Auflage des Buches bereinigt werden sollte.1

Rochau schildert lebendig das Milieu der siebziger Jahre (Edgar Wibeau , das Vorbild aus Ulrich Plenzdorf, die neuen Leiden des jungen Werther...,, Trampen, Klamotten, usw.) und seine eigenen gesellschaftspolitischen, auch ökologischen Vorstellungen. Seine Auseinandersetzung mit der Bergpredigt Jesu und der lutherischen Zwei-Reiche-Lehre Martin Luthers und deren Rezeption wird anschaulich gemacht. Aber er versucht auch die Motive seiner Gegner zu ergründen- am bemerkenswertesten nicht nur in der Beschreibung seines Vaters, sondern auch von Joachim Groth, seinem Hauptvernehmer im „Roten Ochsen“ in Halle. Aber auch sein Schmerz über manche Enttäuschung und Verluste, die er erleben musste, werden deutlich.

Dass Rochau schon häufig seit seiner Ausreise aus der DDR vor Schülern von seinen persönlichen Erfahrungen berichtet hat, merkt man seinem Buch an. Immer wieder will Rochau den Leser hinein nehmen mit in die Zeit, indem er die wesentlichen historischen Daten erläutert.Dabei kommen die Grünen mit ihrer Haltung zur DDR insgesamt besser weg als sie es tatsächlich waren. Petra Kelly, Lukas Beckmann und selbst Otto Schily haben innerhalb der Grünen nicht immer die Mehrheitsmeinung in Bezug zur DDR-Opposition repräsentiert.

Ansonsten hätte man sich von den Buch neben dem Dokumentenanhang noch ein Personenregister gewünscht und hie und da ein noch aufmerksameres Lektorat.

Nach den Erinnerungen von Gauck, Birthler, Meckel, Eppelmann, Lengsfeld, Tschiche, Dietmar Linke und Matthias Storck ein weiteres, Aufmerksamkeit verlangendes Zeugnis protestantischen Widerstehens in der DDR.

Aber auch ein Weckruf an den Westen und seine christliche Traditionsbewahrer, nicht zum wiederholten Male ihre Wurzeln zu verraten, sowie es Lothar Rochau 1983 als auch 1990 erfahren hat, als die Kirche ihn abwies bzw. fallen ließ. Seine strafrechtliche Rehabilitierung von 1992 und das Bußwort der Evangelischen Kirche von Mitteldeutschland von 2018 können nur erste Schritte auf diesem Weg sein. Sein Engagement als Jugendamtsleiter in Halle nach 1989, seine Stiftung für Tansania sollten dazu ermuntern. Dieser Marathon ist noch nicht am Ende und am Ziel. Wegen alter und neuer Mauern.

 

1 Es geht um die Frage, wer vor dem Prozess zum Beten aufgefordert hat. Bei Kobylinski wird aus dem Interview mit Rochau zitiert und der Leser muss den Eindruck gewinnen, dass Rochau das wollte. In Rochaus Buch war es Schnur.