Wie vor 20 Jahren das Ende der DDR begann
Egal, wann und wo in der DDR gewählt wurde: Die SED kam auf traumhafte 99 Prozent. Vor 20 Jahren beschlossen Bürgerrechtler, das Recht auf Anwesenheit bei der Stimmauszählung zu nutzen, um den Betrug aufzudecken. Bei den Kommunalwahlen schritten sie zur Tat – und stießen auf große Probleme.
Von C. Richter und S. F. Kellerhoff, Berlin
"Die Auszählung der Stimmen erfolgt im Wahllokal. Sie ist öffentlich." So hieß es im Wahlgesetz der DDR, von 1976, Paragraf 37. Kann etwas falsch sein, was im Gesetz ausdrücklich vermerkt ist? Das fragten sich im Herbst 1988 und Frühjahr 1989 gleich mehrere Gruppen von Bürgerrechtlern. In Berlin war es der Weißenseer Friedenskreis, der wohl als Erster auf die Idee kam, das gesetzlich verbürgte Recht auf Wahlbeobachtung wahrzunehmen, und zwar bei den Kommunalwahlen heute vor 20 Jahren. Doch auch etwa in Leipzig, Naumburg, Jena oder Erfurt entfaltete dieser Gedanke seinen Reiz.
Denn dies war Allgemeingut in der DDR: Die Wahlergebnisse von 99 Prozent, die die SED öffentlich kundtat, konnten nicht stimmen. Der Paragraf 37 des Wahlgesetzes wurde zur Chance, derlei nicht mehr hinzunehmen; gerade für Vertreter kirchlicher Basisgruppen, die eine andere DDR wollten.
Wie Mario Schatta, damals Sozialdiakon der evangelischen Kirche in Weißensee. Ein "Sponti", erinnern sich Weggefährten. Einer, der schon im Alter von 17 Jahren mit der Stasi zu tun bekam, weil er an seinem Parka den Aufnäher "Schwerter zu Pflugscharen" trug.
Sieben oder acht Mal war er schon im Stasi-Knast gewesen, wenn auch nur für wenige Tage, weil er eine Demonstration oder Protestaktion organisiert hatte. "Wir wollten die Wahlen kontrollieren", sagt Schatta, heute 45 Jahre alt. Er organisierte diese Aktion als Mitglied des Weißenseer Friedenskreises führend mit.
Doch auch andere Oppositionsgruppen in der "Hauptstadt der DDR" hatten die Brisanz des Gedankens erkannt, der scheinbar allmächtigen Staatspartei beim Wahlritual auf die Finger zu schauen. Zum Beispiel die Umweltbibliothek in Prenzlauer Berg, ohnehin für die Stasi ein Lieblingsfeind. "Wir fanden die Idee einleuchtend", erinnert sich Tom Sello. Auch die Oppositionsgruppe Kirche von unten beteiligte sich an dem Vorhaben.
Das allerdings war gar nicht so einfach, denn die Adressen der Wahllokale wurden häufig nicht öffentlich mitgeteilt - ein klarer Verstoß gegen das DDR-Wahlgesetz, dessen Paragraf 30 lautete: "Die Wahllokale werden gleichzeitig mit der Einteilung der Wahlbezirke öffentlich bekannt gegeben." Allein im Bezirk Weißensee waren das mehr als 60, erinnert sich Schatta. Aufwendig musste die Lage der Wahllokale recherchiert und auf Stadtplänen eingetragen werden, denn eine Eingabe an den Staatsrat der DDR, gestellt am 18. April 1989, war unbeantwortet geblieben.
"Wollten nicht das Misstrauen vergrößern"
"Pro Wahllokal brauchten wir zwei bis drei Leute als Beobachter", sagt Schatta. Ihnen sei klar gewesen, dass unter den Freiwilligen für diese Aktion wohl auch Spitzel der Stasi sein würden: "Wir haben aber das nicht groß zum Thema gemacht, um das Misstrauen untereinander nicht noch zu vergrößern." Schatta weiß, wovon er spricht.
Allein auf ihn waren 13 Stasi-IM angesetzt; einer davon trug den Decknamen "Uwe"; dieser Spitzel stahl sogar benutzte Unterwäsche von Schatta, um dem MfS die verlangten "Geruchsproben" zu verschaffen. Im Mai 1989 machte IM "Uwe" engagiert mit und trug sogar die einzelnen, aus den beobachteten Wahllokalen übermittelten Ergebnisse auf dem Gelände der kirchlichen Stephanus-Stiftung in Berlin-Weißensee in eine Gesamtliste ein.
"Die Wahlbeobachtung zu organisieren war viel Aufwand", sagt Schatta. Nicht zuletzt, weil der Friedenskreis, die Umweltbibliothek und die Kirche von unten auf strikte Sicherheitsmaßnahmen achteten. Die Freiwilligen erhielten nur Zettel mit den Adressen der Wahllokale, die sie aufsuchen sollten. Aber sie wussten nicht, wer noch zu ihrer Gruppe gehörte: "Damit sich die Stasi-Leute nicht absprechen konnten", erklärt Mario Schatta.
Tom Sello hatte ein Wahllokal am Ostbahnhof in Friedrichshain zugewiesen bekommen. Kurz nach 17.30 Uhr traf er wie die meisten anderen Wahlbeobachter dort ein. Jedenfalls in vielen, allerdings längst nicht allen Wahllokalen durften die Wahlbeobachter der Urnenöffnung und Auszählung beiwohnen.
"Auf die einzelnen Wahlzettel schauen durfte ich jedenfalls nicht", erinnert sich Sello. "Das machten die Wahlhelfer selbst." Von Wahllokal zu Wahllokal wurde die Möglichkeit der Beobachtung verschieden gehandhabt - abhängig von der Durchsetzungskraft der von der SED gestellten Wahlleiter.
Die Oppositionellen mussten sich daher oft darauf beschränken, die nach der Auszählung vor Ort mitgeteilten Einzelergebnisse zu dokumentieren. Zusammengetragen wurden die Ergebnisse in der Stephanus-Stiftung in Weißensee und in den Räumen der Kirche von unten, die im Gemeindehaus der Elisabeth-Kirche in Mitte lagen.
Hier trafen sich am Abend des 7. Mai 1989 die Beobachter der Umweltbibliothek und der Kirche von unten, darunter Tom Sello. Seiner Erinnerung nach hatten sich etwa 200 Aktivisten eingefunden: "Dort stand ein Fernseher, es lief das DDR-Fernsehen. Als Krenz dann das ,Ergebnis' bekannt gegeben hat, gab es einen Aufschrei der Wut."
Das offizielle Wahlergebnis nämlich lautete 98,85 Prozent für die Einheitsliste. Aber dank der Wahlbeobachtung konnten die Oppositionellen dokumentieren, dass die Ergebnisse in einzelnen Wahllokalen anders ausgefallen waren. In Weißensee zum Beispiel wurden zwar 83 Prozent Jastimmen gezählt - aber eben auch aber jede Menge Neinstimmen. In anderen Bezirken der DDR waren zehn, manchmal bis zu 20 Prozent Gegenstimmen dokumentiert worden. Bei solchen Werten war ein Gesamtergebnis von nur 1,15 Prozent Ablehnung rechnerisch unmöglich.
Die Diskrepanz machte den Wahlbetrug offensichtlich
Doch die SED beging einen weiteren schweren Fehler: Das Parteiblatt "Neues Deutschland" veröffentlichte bis auf die Ebene von Stadtbezirken angebliche Ergebnisse in vermeintlich exakten Zahlen. In Weißensee zum Beispiel sollten angeblich 43.042 Bürger gewählt haben, bei insgesamt 44.617 Wahlberechtigten. Doch die Bürgerrechtler, die in 66 von 67 Wahllokalen die Auszählung verfolgt hatten, waren nur auf 27 680 Stimmen gekommen. Davon waren 2224 offiziell gezählte Neinstimmen – doch das "Neue Deutschland" nannte für den gesamten Bezirk nur 1011 Neinstimmen. Ähnlich fiel die Diskrepanz auch in Naumburg, Potsdam, Erfurt oder Jena aus. Damit war der Wahlbetrug offensichtlich.
Schatta rätselt bis heute, warum die Stasi damals nicht einschritt: "Die wussten doch, was wir vorhatten, und auch, dass wir den Wahlbetrug herausfinden würden", sagt der 45-Jährige, der noch immer in Weißensee lebt und dort als Psychotherapeut arbeitet. Die Spitzel waren bei der Auszählung dabei und, so Schatta, "vor der Stephanus-Stiftung standen 40 bis 50 Stasi-Leute". Doch keiner stoppte die Bürgerrechtler und beschlagnahmte ihre Listen, auch abends nicht, als sie auf dem Weg zum Gemeindehaus der Elisabeth-Kirche waren, zur "Wahlparty". Da allerdings waren die Listen mit den Detailergebnissen vorsichtshalber schon ein zweites Mal abgeschrieben worden.
Die unerwartete Zurückhaltung des MfS hatte Folgen: Schatta und andere Aktivisten stellten offiziell Strafanzeige gegen unbekannt wegen Wahlfälschung und informierten heimlich westliche Korrespondenten in Ost-Berlin. Tom Sello half mit, in der Umweltbibliothek die Dokumentation "Wahlfall 1989" herzustellen, die dann illegal gedruckt und verbreitet wurde. Weil die Beschwerden im Sande verliefen, riefen fortan die Oppositionellen dazu auf, am 7. jedes Monats gegen den Wahlbetrug zu demonstrieren.
Treffpunkt für diese Proteste wurde unter anderem der Alexanderplatz - und als die fünfte derartige Demonstration am 7. Oktober 1989 mit dem von der SED groß gefeierten 40. Jahrestag der DDR zusammenfiel, wurde aus dem Unmut von einigen wenigen eine Massenkundgebung, der die DDR-Führung nur noch brutale Polizeigewalt entgegensetzen konnte.